Ameland
Ameland
Ameland 2007
mit dem KvG
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Ameland
Nisten wir uns für einige kurze Augenblicke im Köpfchen einer Möwe
ein, die verhalten durch den niederländischen Luftraum gleitet. Von den gastronomischen
Pilgerstätten an den Ausläufen des Festlandes hinaus über die Schaumkronen,
in unbekanntes Territorium, plötzlich getrieben von einem rastlosen Drang.
Was sehen wir?
Das endlos milde Blau des Himmels, zerfurcht von wenigen Kondensstreifen, die
die irdischen Gewässer in Planquadrate zu unterteilen scheinen, alles unter
dem wachsamen, unnachgiebigen Auge des Sonnenkörpers. Und schließlich,
sich vor uns aus marineblauen Wassermassen hervortürmend, ein neues Fleckchen
Erde, umranded von goldgelben Stränden, an die die Wellen Treibholz und verlorene
Güter spülen, aus ihrem eigentlichen Kontext gerissen, entführt
an fremde Gestade.
Unweit entfernt vom Landestreifen dieser entfremdeten Dinge erblicken wir Grüppchen
von Personen, die in ihrem Verhalten gleichsam fehl an Ort und Zeit wirken. Mit
verbundenen Augen klammern sie sich aneinander und marschieren, verwirrt, zögerlich,
barfüßig, über den heißen Untergrund. Kurzzeitig sind die
Individuen zu einem Körper verbunden.
Der Aufenthalt dieser Personen auf der Insel ist kein Zufall. Und auch der Sinn
dieses Rollenspiels lässt sich erschließen, wenn auch einigen
murrenden vielleicht erst später. Dennoch: Warum an diesem Ort?
Der "Gang auf die Insel" ist eine schulische Tradition. Wie bei jeder
Tradition, gibt es auch bei dieser zahlreiche befürwortende Stimme, wie auch
mannigfaltige Ablehnung zu vernehmen.
Das ist insbesondere nachvollziehbar, wenn man 14 Jahre alt ist. 14 Jahre, und
"gegen die Welt", gegen die Klischee einer erwachsenen Leisungsgesellschaft
voller starrer Rollenerwartungen, und gegen die schleichende Angst, dass dieser
Widerstand womöglich selbst eines dieser verhassten Klischees sein mag. Das
formative Moment dieser Zeit liegt freilich im Entdecken, im Ausloten von Grenzen,
im Wechselspiel von emotionaler Flut und Ebbe. Und wo besser mit dem eigenen Ich
verabreden, als an einem Ort fern der eigenen Komfortzone, wenngleich dieser auch
zuerst eher unspektakulär anmuten mag.
Und so findet man sich wieder auf einem 4-bis-5-Personen-Zimmer mit etwas rustikalerem
Flair, und erlebt ein seltsames, heißhungriges Vergnügen an der Verbrüderung,
an Gesprächen, die über die Trivialitäten des Alltags und der Popkultur
hinausgehen, an der Vertiefung von bewährten und Grundsteinlegung für
neue Freundschaften, während einem die intravenös eingeflösssten
Ladungen Shanty ein wohliges Pochen hinter der Stirn bereiten.
Durch die Dünen ziehen, bis der Saum der Nacht von der Spitze des Leuchturms
hinabgleitet und man sich kurzzeitig angstvoll allein und verlassen wähnt,
bis einen die Hand von Freunden berührt. So wie kurz zuvor am Strand, im
hellsten Sonnenschein, mit verbundenen Augen.
Zwischendrin: Leben wie "zuhause", aber leicht verschoben. Vla-Raubzüge
im Supermarkt. Der große Wasserbombenkrieg der 8c von 2007. Gitarren-Schmachten
am offenen Fenster, während draußen Erdbrocken in die Luft sprühen
beim Zweikampf im Mittelfeld. Lehrer,die den Kokon der pflichtbewussten Unnahbarkeit
verlassen, und sich als "echte Menschen" entpuppen.
Die Insel an sich stellt überhaupt einen Raum der Isolation dar, einen eigenen
kleinen Kosmos, in dem Passageriten überhaupt erst möglich sind. Und
weil sich dieser insulare Kosmos der Adoleszenz nur von innen heraus begreifen
lässt, ist einiges von außen vielleicht nicht immer nachvollziehbar:
Wie das ist, wenn SIE oder ER mit einem einzigen Lächeln wuchernde Phantasien
vom ersen Kuss bis zur Eheschließung auslösen, die dann bei der nächtlichen
Fiesta durch die gepflegte Ignoranz des Angebeteten ("Wie heißt du
noch gleich?") Lügen gestraft werden.
Wonach man sich in der kalten Abendluft auf die Stufen vor der Halle verzieht,
mit einer in ihrer Peferktion später nie wieder erreichten Fuck-Off-Attitüde,
um zusammen mit der Clique Pläne zu schmieden, "sich eines Tages zu
rächen, die Herzen aller Mädchen zu brechen (etc.)". Eine Szene,
die rückblickend zudem an Komik gewinnt, wenn man sich die Beschallung durch
Timbalands "The Way I Are" vergegenwärtigt, wo sich doch gerade
das (Selbst-)bewusstsein um die eigene Charakterstärke unter die Räder
geworfen hatte.
Aber wie es nun einmal immer so ist: Was passiert, ist mindestens so wichtig,
wie das, was NICHT passiert. Ersteres beeinhaltet bei einigen immerhin den Verzehr
von nahrhaften Wattwürmern, während man gummigestiefelt dem Horizont
über dem von der Ebbe aufgedeckten Treibsand entgegen stampfte. Und während
man hinüber blickt, zu den anderen, wie sie erfolgreich dem Versinken im
Boden widerstehen, besitzt das Licht eine besondere Qualität.
All dies ist lange her; die Erinnerung verblasst stetig. Und dennoch verbleibt
ein tröstlicher Gedanke. Denn wenn wir an den Stränden der Welt auf's
Meer hinaus blicken, wissen wir, dass unser damaliges Ich irgendwo dort hockt,
jenseits der Schaumkronen. Und unseren Blick von der anderen Seite her erwidert.
Von Angesicht zu Angesicht.
Markus Recker, Abiturzeitung 2013