Abb. 1: Entwicklung der Einschulungen nach Berufen der Eltern
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40 Jahre Kardinal-von-Galen-Schule

Raum- und soziostrukturelle Analyse

1) Erläuterungen zu den zugrundeliegenden Daten
Dieser Aufsatz basiert auf der Auswertung einer Kartei mit Daten ehemaliger Schüler, die im Zeitraum von 1946 bis 1976 an unserer Schule aufgenommen wurden. Soweit erforderlich, wurde dieses Material anhand der aktuellen Schülerkartei (bis Einschulungsjahr 1985) ergänzt.
Folgende Daten wurden berücksichtigt:
- Jahr der Einschulung an der Kardinal-von-Galen-Schule
- Ort der vorher besuchten Schule
- Internatszugehörigkeit
- Beruf des Vaters bzw. der Mutter (Gliederung nach Berufsgruppen)
- Geburtsort (regionale Gliederung, z.B. nach Bundesländern).
Diese Daten wurden mit Hilfe der schuleigenen Computer ausgewertet. (Aus Gründen des Datenschutzes wurden keine Namen gespeichert); dabei konnten wir mit einem im Grundkurs 12 Informatik selbst entwickelten Programm die Daten aufeinander beziehen und Tabellen aus ihnen erstellen.* Diese Tabellen wurden entweder direkt in den Aufsatz übernommen oder dienten als Grundlage für die Diagramme und Kartogramme.
Verschiedene Unzulänglichkeiten im Datenmaterial können zu Unschärfen bei den daraus entwickelten inhaltlichen Aussagen führen:

Abb .2: Entwicklung der Neuzugänge seit 1946
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- Auf manchen Karteikarten (v.a. aus den frühen Jahren der Schule) fehlen Angaben zu den o. g. Kriterien.
- Die Berufsangaben sind nicht sehr exakt, so daß eine Einordnung in die Kategorien Angestellte, Arbeiter und Selbständige zuweilen problematisch ist.
- "Einschulungen” beziehen sich nicht nur auf Klasse 5, sondern umfassen auch Zuzüge sowie z.B. die Aufnahme von Realschülern in Klasse 11.
Diese Unschärfen sind aber nicht so gravierend, daß sie langfristige, deutlich erkennbare Trends verdecken könnten.
Das Ziel bei der Auswahl und Verknüpfung der Daten in Form von Tabellen und Graphiken war zunächst, ein räumliches und soziales Beziehungsmuster herzustellen (Abb. 1, 3, 4; Tab. 1, 3), aber auch externe und interne Schülerschaft zu vergleichcn (Abb. 2,3; Tab. 1). Dabei ließen sich besonders auffällige, für das Internat typische Erscheinungen feststellen, die eine eingehendere Untersuchung (Tab. 2) veranlaßten. Hierauf wird im folgenden noch einzugehen sein.

2) Gesamtentwicklung der Einschulungszahlen
Um wesentliche singuläre Ereignisse festzuhalten, soll zunächst die Entwicklung der Einschulungszahlen insgesamt, d.h. noch nicht regional oder sozial differenziert, untersucht werden (Abb. 1, 2; Tab. 3).
Die Einschulungszahlen zeigen in den Anfangsjahren eine steigende Tendenz mit Höhepunkt 1954, wobei der Internatsanteil fast konstant bei etwa 60% liegt. Die 1956-58 erfolgte Einschulung der schwachen Nachkriegsjahrgänge macht sich in abnehmenden Zahlen stärker beim externen als beim internen Anteil bemerkbar, so daß letzterer - prozentual gesehen - in diesen Jahren sogar noch steigt. Mitte der 50er Jahre kann also von einer Blütezeit des Internats mit einer Einschulungsquote von fast 70% gesprochen werden. Ein Gegentrend setzt dann allerdings in den 60er Jahren ein, in denen zurückgehende Schülerzahlen auf das Konto des Internates gehen. Auch ein rapider Wiederanstieg der Einschulungen ab 1964 wirkt sich nur auf den externen Anteil positv aus, so daß der Internatsanteil 1966 schließlich auf weniger als 1/3 absinkt. Die Konsequenz war, daß ab 1967 keine Schüler mehr ins Internat aufgenommen wurden und das Internat 1974 aufgelöst wurde.
Abb. 3: Externe und interne Schüler nach Berufen der Eltern
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Die größte Zäsur in der Entwicklung der Einschulungszahlen stellt das Jahr 1968 dar. Nachdem bereits 1966 erhöhte Zahlen erscheinen, die jedoch organisatorisch bedingt sind (1966/67 wurde der Schuljahresbeginn von Ostern auf den Sommer umgestellt, so daß in diesen Zeitraum zwei Kurzschuljahre fielen und 1966 zwei Jahrgänge eingeschult werden mußten), brachte das Jahr 1968 mit der Neuaufnahme von Mädchen schlagartig eine Verdoppelung der Einschulungen. Diese stiegen in den folgenden Jahren - bedingt durch den bildungspolitischen Trend und die Bevölkerungsentwicklung in Hiltrup und Umgebung - noch beträchtlich an, bis ab 1975 das neu gegründete Kant-Gymnasium eine Entlastung brachte. Seither haben sich die Einschulungszahlen auf ein Niveau von etwa 90 bis 120 pro Jahr eingependelt.

3) Schule und Internat vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung
In vielen Daten unserer Schule spiegelt sich die gesamtgesellschaftliche Entwicklung seit dem letzten Krieg wider. Sie läßt sich durch die Schlagworte „soziale und regionale Mobilität” charakterisieren.

Abb. 4: Einzugsbereich des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums
(Schuljahr 1985/86; 897 Schüler)
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„Soziale Mobilität” bedeutet vor allem den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft, d.h. eine starke Zunahme von Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich, während der Anteil der Industriebeschäftigten rückläufig ist. Dieser Trend äußert sich (in Abb. 1) in Gestalt eines sinkenden Arbeiter- sowie eines steigenden Angestellten- und Beamtenanteils an den Eltern unserer Schüler. Aber auch eine nachkriegsbedingte Erscheinung wie z.B. der relativ hohe Anteil alleinstehender Mütter ist in Abb. 1 am Anteil der Hausfrauen etwa Mitte der 50er Jahre abzulesen. (In der Schulkartei wurde i.a. der Beruf des Vaters geführt; der Beruf der Mutter erschien nur, falls sie Alleinerzieherin war.)
Unter „regionaler Mobilität” hingegen versteht man ein erhöhtes Maß an Wanderungsbewegungen - freiwillig oder erzwungen -, die sich seit dem letzten Krieg abgespielt haben: Sowohl die Flucht und Vertreibung aus den Oder-Neiße-Gebieten in der Nachkriegszeit als auch die Abwanderung aus der DDR ist in Tab. 1 u. 2 gut zu erkennen. Seit den 60er Jahren stehen in der Bundesrepublik Deutschland Binnenwanderungstrends im Vordergrund: besonders charakteristisch ist die durch erhöhte Ansprüche an den Wohnwert bedingte Abwanderung der Kernstadtbevölkerung in die großstädtischen Außenbereiche bzw. die Ballungsrandzonen, wobei i.a. nur die Wohnung, nicht aber der Arbeitsplatz gewechselt wird. Für das Einzugsgebiet unserer Schule bedeutete dies verstärkte Zuwanderung, vor allem von jungen Familien mit Kindern, Wandlung von Dörfern zu suburbanen Wohngemeinden mit einem hohen Anteil im tertiären Sektor Beschäftigter (vor allem zutreffend auf Hiltrup, aber auch auf Angelmodde, Amelsbüren, Rinkerode und Drensteinfurt) oder sogar die Entstehung ganz neuer Wohnviertel (Berg Fidel). Diese Entwicklung hat ab Ende der 60er Jahre ganz wesentlich zu den stark vermehrten Einschulungen (Tab. 3) beigetragen, die (trotz bundesweit zurückgehender Schülerzahlen) das Bild bis heute prägen.
Wie hat nun unsere Schule auf die sich aus der sozialen und regionalen Mobilität ergebenden Herausforderung reagiert?
Tab. 1: Externe und interne Schüler
nach ihrer Herkunft (1946-76)
 
extern
intern
Schleswig-Holstein
3
8
Hamburg
13
23
Niedersachsen
62
75
Bremen
2
0
Nordrhein-Westfalen
1872
678
Hessen
7
7
Rheinland-Pfalz
17
19
Saarland
4
15
Baden-Württemberg
19
3
Bayern
11
5
ehem. deutsche Ostgebiete
16
47
DDR
19
41
Berlin
5
3
Ausland
27
4
In der Nachkriegszeit und den 50er Jahren hatte das Internat eine wichtige soziale Aufgabe zu erfüllen, die wohl wesentlich auch seine „Blüte“ mitbedingt hat: die Zahlen (Abb. 3) zeigen, daß Hausfrauen, Arbeiter und Rentner bei den Eltern der Internatsschüler ganz deutlich überrepräsentiert sind, also gerade die sozial bzw. durch Kriegsfolgen am stärksten Benachteiligten. Die Verteilung der Herkunftsorte zeigt, daß sich entsprechendes über die Schüler aus den Oder-Neiße-Gebieten und der DDR sagen läßt (Tab. 1,2). Die soziale Funktion des lnternates liegt darin, daß es in einer Zeit, in der noch Schulgeld gezahlt wurde, weder Fahrgeld- noch Lernmittelfreiheit existierte und nur sehr wenige Schüler ein Gymnasium besuchen konnten, sozial Benachteiligte durch eine großzügige Begabtenförderung unterstützt hat.
Auf Verbindungen des Ordens der Hiltruper Missionare beruht eine weitere regionale Besonderheit wie z.B. die hohe Zahl interner Einschulungen aus dem Saarland (Tab. 1, 2) im Jahre 1964. Hier handelt es sich um Angehörige des Johanneums Homburg, das vom Orden 1963 als Internat gegründet worden war, aber erst 1965 den Schulbetrieb aufnahm.
Die oben dargestellte Bevölkerungsentwicklung seit den 60er Jahren hat aber dann langfristig die Auflösung des Internats mitverursacht: Hiltrup mit seiner vergrößerten Einwohnerzahl stellte nun eine ausreichende Basis für ein Gymnasium dar (später sogar für zwei). Externe Schüler wurden zum Regelfall, das Internat wurde nicht mehr als notwendig empfunden.
Der Funktionswandel zu einer auf die Bedürfnisse der „Satellitenstadt“ Hiltrup ausgerichteten Schule erforderte auch die Aufnahme von Mädchen sowie den Übergang vom humanistischen Gymnasium zum heute praktizierten Oberstufenmodell. Daß unsere Schule sich hier rechtzeitig der sozialen und regionalen Mobilität anpassen konnte, zeigen Abb. 1, Abb. 4 und Tab. 3: Der Wandel in der Zusammensetzung der Elternberufe entspricht der oben dargestellten allgemeinen Tendenz; die regionale Entwicklung zeigt im Detail zwar Sprünge (etwa bedingt durch „Mitzieheffekte” in Grundschulklassen), langfristig betrachtet ändern sich - wenn man von dem z.T. durch das Internat bedingten hohen Prozentsatz von „Sonstigen” in den ersten Zeilen von Tab. 3 einmal absieht - die Anteile der einzelnen Orte im Einzugsbereich an den Einschulungen aber kaum. Nach wie vor erstreckt sich der Einzugsbereich dank der günstigen Eisenbahnverbindung weit nach Süden (Rinkerode, Drensteinfurt); die West-Ost-Achse (Amelsbüren - Angelmodde) ist - da nur durch Bus oder Fahrrad erschließbar - merklich schwächer ausgeprägt. Obwohl die Sogwirkung des Oberzentrums Münster eine Ausstrahlung nach Norden verhindert, konnte hier das neu aufkommende Wohngebiet Berg Fidel z.T. in den Einzugsbereich eingefügt werden.
Unsere Schule wird also, sowohl sozial als auch regional gesehen, von einer breiten Bevölkerung angenommen; sie hat sich von einer Internats- zu einer Stadtteilschule gewandelt.
Ulrich Kaspar in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1986. Festschrift zum 40jährigen Jubiläum des Gymnasiums, Münster 1986
Unten: Tab. 2: Einschulungen aus ausgewählten Regionen. - Rechts: Tab. 3: Einschulungen, geordnet nach Herkunftsorten 06
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* Die Abbildungen fertigten Werner Bockholt, Heinz Braunsmann und Hermann Humbert an. Für die Codierung von über 3 000 Datensätzen sei außerdem den Kollegen von der Fachschaft Erdkunde, für das Eintippen der Codes den Schülern des Grundkurses 12 Informatik gedankt. [Anmerkung 2016: Tabellenkalkulationsprogramme wie z. B. Excel gab es 1986 noch nicht! Der Informatikkurs hatte also die edle und innovative Aufgabe, selbst ein Programm zu schreiben (s. o.), welches aus einzugebenden Datencodes Outputs wie z. B. die hier gezeigten Tabellen 2 und 3 herstellte. Ähnliche Tabellen-Outputs lagen den Diagrammen und Kartogrammen zugrunde, die damals noch von Hand gezeichnet wurden und die hier in um- bzw. neugestalteter Version zu sehen sind.]