Br. Koening mit den Autorinnen des hier zitierten Berichtes,
(v. l.) Eva-Maria Silies, Dorothee Kühn, Anne Schemann

„Feindzentrale“ Onkel Theo

600 Kontakte in die DDR - Ein Ordensbruder mit außergewöhnlichem Hobby

Wer ahnt heute noch, dass das so friedliche KvG-Geschäftszimmer in Zeiten des kalten Krieges in Stasi-Akten geführt wurde? Dass sein damaliger Leiter, Bruder Theo Koening msc,

zu DDR-Zeiten ein „Ein-Mann-Unternehmen“ in Sachen Nächstenliebe war - für rund 600 Familien in der DDR ein Hoffnungsträger und Ansprechpartner, für die SED-Regierung* eine Art ,Feindzentrale' [1] ?

So der - hier auszugsweise zitierte - umfangreiche Bericht unserer ehemaligen Schülerinnen Dorothee Kühn, Anne Schemann und Eva-Maria Silies (Abitur 1997), für den sie den 2. Platz im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 1994/95 erhielten:

Br. Theo Koening (2. v. l.) 1986 bei seinem täglichen Dienst als Leiter des Schulsekretariats. Mit auf dem Bild: Br. Herbert Spellmeyer (Hausmeister), Horst Grünstraß (Verwaltung) und Ingrid Högemann (Sekretärin)
Theo Koening wurde am 26. April 1926 in Horstmar geboren. […] Nach der Volksschule und einer Lehre als Industriekaufmann wurde er kurz vor Kriegsende […] eingezogen und entkam nur knapp der Kriegsgefangenschaft. Über seine Erlebnisse in der Kriegszeit und seine Erfahrungen mit dem Naziregime schreibt er in einem Brief: „Wenn man selbst einmal ,im Dreck gestanden' hat und sich noch etwas Menschsein bewahrt, dann wird man sein Leben lang die nicht vergessen, die es jetzt nicht so gut haben, die im Moment dieses ,Tal' durchwandern müssen.“ […]

,Anderen zu helfen', dieser Gedanke faszinierte ihn so sehr, dass er sich entschloss, ihn zu seinem Lebensziel zu machen. So trat Theo Koening am 2. Januar 1948 dem [...] Orden der „Missionare vom heiligsten Herzen Jesu“ in Münster-Hiltrup bei, mit dem festen Vorsatz, in die Mission zu gehen. Am 2. Oktober 1952 brach er dann auf, sein Ziel: Papua-Neuguinea. Auch während seiner Zeit in der Mission stand die Arbeit und die Hilfe für andere Menschen im Mittelpunkt von Bruder Koenings Leben. Von Papu-Neuguinea knüpfte er auch eher zufällig seinen ersten Kontakt in die DDR: Er war nämlich von den Kindern seiner Verwandten in Westdeutschland nach Briefmarken aus Papua-Neuguinea gefragt worden. […] Über einen ostdeutschen Entwicklungshelfer aus Güstrow lernte er dann ein Mädchen aus Ostdeutschland kennen. Diese schrieb, sie habe gehört, Bruder Koening wolle Briefmarken tauschen, und stellte sich kurz vor: „Ich heiße Erika, bin 18 Jahre, habe blondes Haar und bin 1,63 m groß.“ Bruder Koening antwortete ihr: „Ich heiße Theo, hatte mal blondes Haar - ist nicht viel übriggeblieben -, bin 1,83 m groß, 46 Jahre alt und könnte ganz gut Ihr Vater sein.“ Schon bald kam nun ein regelmäßiger Briefkontakt zwischen Papua-Neuguinea und der DDR zustande, bei dem es nicht nur um Briefmarken ging, sondern auch um persönliche „Alltagssorgen“.

Hier wird u. a. über Br. Koenings Aktion berichtet
Obwohl Bruder Koening ursprünglich vorhatte, sein ganzes Leben in der Mission zu verbringen, kehrte er 1972 doch nach Hiltrup zurück. Man bot ihm dort die gerade freigewordene Stelle im Sekretariat des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums an. Obgleich er, wie er heute eingesteht, damals von dem Beruf keinerlei Ahnung hatte, beschloss er, es einmal zu versuchen. Aus diesem Versuch wurden 19 Jahre, bis er schließlich 1991 pensioniert wurde und den Pfortendienst im Kloster übernahm. Auch nach seiner Rückkehr aus Papua-Neuguinea brach der Kontakt zu Erika nicht ab, und 1974 konnte er sie sogar für ein paar Tage besuchen. Vier Jahre später fuhr er ein zweites […] Mal - zu Erika in die DDR. Während seines dreiwöchigen Aufenthaltes spürte Bruder Koening, dass die Lage dort ziemlich gespannt war. Besonders auffallend war für ihn, dass die Menschen, mit denen er zusammenkam, in Einzelgesprächen ganz offen das System der DDR kritisierten und die Nachteile nicht verschwiegen. Sobald jedoch ein dritter hinzukam, getraute sich keiner mehr, etwas in dieser Hinsicht zu sagen. Bruder Koening erzählt: „Die ganze Atmosphäre erinnerte mich irgendwie an die Zeit des Nationalsozialismus. Da hat sich auch keiner getraut, etwas zu sagen, wenn mehrere Leute dabei waren.“

Ziemlich betroffen fuhr er nach Hiltrup zurück. Dort lag auf seinem Schreibtisch ein Exemplar der Zeitung „Hilferufe von drüben“. Hier erfuhr Bruder Koening nun auch noch von den vielen Menschen in der DDR, die in diesem Land aus politischen Gründen inhaftiert waren und die um Hilfe aus Westdeutschland baten. Er war bestürzt darüber, was er in dieser Zeitung über den Umgang des Regimes mit den Leuten „drüben“ lesen musste. Deshalb überlegte er nicht lange, sondern schrieb sofort an […] Familien, deren Adressen in der Zeitung veröffentlicht waren. Er […] schickte auch immer wieder Pakete mit Sachen, die in der DDR nur besonders schwer oder gar nicht zu bekommen waren. Schon bald reichte sein Taschengeld, das er monatlich vom Kloster erhielt, dafür nicht mehr aus. […] Deshalb begann er, bei Freunden und Verwandten Geld zu sammeln und sie um ihre Mithilfe zu bitten. Auch an der Schule war seine Hilfe bekannt geworden, und schon Weihnachten 1980 startete die KSJ eine Sammelaktion. […] Immer wieder wurden Konzerte veranstaltet, deren Erlös Bruder Koening zugute kam oder Sammelaktionen gestartet, bei denen eine Menge Kleidungsstücke und auch Lebensmittel zusammen kamen. Außerdem nutzte Bruder Koening auch selbst im Schulalltag jede Chance, für seine Aktion Geld zu sammeln. So hat er zum Beispiel in den Pausen den Kaffee für die Lehrer gekocht, jede Tasse für 50 Pfennige verkauft und anschließend das Geschirr gespült. Bruder Koening spürte immer wieder, dass die Menschen, denen er schrieb - übrigens fast alles Ausreiseantragsteller oder politische Häftlinge - sehr auf Westkontakte angewiesen waren, um dem Druck der SED-Regierung und der Stasi** standzuhalten. Er war der festen Überzeugung, dass diese Menschen einen dauerhaften Kontakt brauchten, und so setzte er sich jedes Wochenende hin und schrieb Briefe an die zahlreichen Kontaktadressen. […]

1991: Oberbürgermeister Dr. Jörg Twenhöven überreicht Br. Koening im Rathaus von Münster das Bundesverdienstkreuz als Anerkennung für seine außergewöhnliche und selbstlose Hilfsaktion.
1983 hatte er schon etwa 200 Adressen von Hilfesuchenden im Osten Deutschlands, an die er regelmäßig schrieb und Pakete schickte. Nach und nach wurde diese Hilfe für die Menschen in der DDR zur Lebensaufgabe von Bruder Koening. Er selbst bezeichnete seine Arbeit in Briefen an die Familien manchmal scherzhaft als sein zeitraubendstes „Hobby“. Mittlerweile hatte er sich im Keller des KvG einen Raum eingerichtet, in dem er samstags und sonntags saß und sich mit seinem „Hobby“ beschäftigte. Von morgens bis abends verteilte er dort Lebensmittel und warme Winterkleidung in Kartons, verschnürte Pakete, die den ganzen Flur aufgereiht standen, stellte Rechnungen auf oder zählte Geld. Später zog er dann in einen winzigkleinen Raum im Keller des Klosters. Dort verbrachte er von nun die Wochenenden und tippte und schrieb und tippte und schrieb... Dabei versuchte er immer, auf die persönlichen Fragen und Probleme einzugehen; mit politischen Äußerungen zum System der DDR hielt er sich in den meisten Fällen zurück, um seine Freunde nicht noch zusätzlich zu gefährden. Wünschten diese sich jedoch von sich aus einen „politischen Gedankenaustausch“, so machte Theo Koening auch hier seine Standpunkte deutlich. War der Briefpartner eher religiös, so „sprach“ er mit ihm über Bibelstellen und schickte kleine religiöse Texte, um auf diese Weise Mut und Hoffnung zu machen. Vielleicht war er wegen seines starken Glaubens und seiner christlichen Einstellung der Stasi, die viele kirchlich engagierte Gruppen und Personen besonders stark überwachte, ein besonderer Dorn im Auge. […]

Dass aus den Briefpartnern in der DDR „Verwandte“ wurden, lag daran, dass eine Frau ihn gefragt hatte, ob ihr Sohn ihn nicht mit „Onkel Theo“ anreden dürfe. [...] Dieses „Verwandtschaftsverhältnis“ hatte außerdem noch einen weiteren Vorteil. In einem Brief an Familie Schulz schreibt er: „Wenn man in einen derartigen Briefverkehr tritt, dann ist es zweckmäßig, dass man sich nicht nur als Freunde, sondern oftmals sogar als Verwandte ausgibt. Unter diesem ,Mantel' geht dann die Post besser durch, das habe ich schon in vielen Fällen erleben können. Darf ich diesen Vorschlag auch Euch unterbreiten? Sagt einfach ,Onkel Theo' zu mir, ich selber würde mich freuen, wenn mein Verwandtenkreis durch neue Nichten und Neffen vergrößert würde. Aber auch etwas anderes bezwecke ich damit: Durch diese vertraute Anrede und dieses ,Verwandtschaftsverhältnis“ sollt Ihr spüren und wissen, dass sich hier Menschen um Euch sorgen und dass sie versuchen, Euch zu verstehen und Euer Leid mitzutragen.“

Gratulation der Schule zur Überreichung des Bundesverdienstkreuzes an Br. Koening 1991. Oberes Bild: Br. Theo Koening (l.) mit Schulleiter Bernard Brinkbäumer. Unteres Bild: P. Manfred Simmich (am vorderen Treppengeländer), P. Norbert Becker (mit Mikrofon), Br. Theo Koening (dahinter); weiter rechts Schülersprecher Thankmar Wagner, Schulleiter Bernard Brinkbäumer, stellv. Schulleiter Rudolf Deneke
Die meisten Menschen, denen „Onkel Theo“ geholfen hat, denken auch jetzt noch voller Dankbarkeit an diesen Mann. In dem Buch „Gebt mir meine Kinder zurück. Zwangsadoption in der ehemaligen DDR“ von Ines Veith wird unter anderem das Schicksal von Jutta Gallus beschrieben, die aufgrund eines gescheiterten Fluchtversuches zweieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen hatte und nach ihrem Freikauf in den Westen versuchte, ihre beiden Töchter aus dem Osten gegen Willen der DDR-Regierung zu sich zu holen. […] In dieser Zeit lernte Jutta Gallus bei einem Treffen der Organisation „Hilfe von drüben“ in Lippstadt Bruder Koening kennen, der entscheidend dazu beitrug, dass ihre Kinder schließlich in den Westen kommen konnten. In dem genannten Buch wird Bruder Koening auch beschrieben: […] „Ein gemütlicher Mensch mit sehr viel Schalk und Humor. ,Lass mal, wir tricksen die von der Stasi schon aus, wir sind besser als die', tröstete er Jutta. Seither klappte es wirklich fabelhaft. (...) Bruder Koening war ein Geschenk des Himmels. Wo immer er konnte, stellte er die durch die Stasi zerstörten Kommunikationsfäden wieder her. Allerdings nur im familiären Bereich. Für politische Kurierdienste hätte er seine Kontaktbörse im Osten nicht missbraucht.“ [1]

Es folgt ein ausführlicher Bericht über das Schicksal weiterer DDR-Familien, denen Br. Koening wertvolle und entscheidende Hilfe gewähren konnte. - Seine umfangreichen Aktivitäten blieben allerdings der Stasi nicht verborgen:

Überzeugt war er davon, dass er durch seine zahlreichen Brieffreundschaften und Hilfeaktionen in das Visier der Stasi geraten war. Schon 1981 erfuhr er [...], dass er in Abwesenheit von mehreren Gerichten in der DDR verurteilt worden war, da er „Mitglied einer Menschenhändlerbande“ sei und einer „staatsfeindlichen Organisation“ angehöre. Die Stasi wollte damit alle Ausreisewilligen und Antragsteller abschrecken und diesem „Onkel“ das Handwerk legen. Auch wenn sie letzteres nicht geschafft hat, so schaffte die Stasi es mit dieser Taktik, etliche Briefpartner einzuschüchtern und zu verunsichern. Jeanette T. aus Neugersdorf schreibt etwa im November 1988 an Bruder Koening: „Mutti musste vorige Woche zur Polizei. Dort wurde ihr gesagt, sie und ich müssen den Kontakt zu Dir sofort abbrechen. Du würdest einer so genannten Organisation angehören, die hier bei uns Unruhe stiftet. Ich kann mir das auf keinen Fall vorstellen, wo Du nur Gutes für uns und all die anderen Menschen tust.“ […]

Eines Tages bekam Bruder Koening zur Hochzeit von einem seiner Schützlinge in Cottbus einen ungewöhnlichen Brief: „Es hat geklappt, lieber Theo! Wir freuen uns auf Dich und werden vielleicht schon telefoniert haben, wenn der Brief bei Dir ankommt. Lasse uns bitte wissen, wann Du in Cottbus eintreffen wirst. (...) Alle freuen sich auf Dich!“ Beigefügt war ein Berechtigungsschein für ein zehntägiges Visum, das ihm das Paar geschickt hatte. Bruder Koening wunderte sich schon ziemlich über die unerwartete Freizügigkeit des DDR-Regimes: ein Visum für eine Hochzeit von Leuten, mit denen er noch nicht mal wirklich verwandt war. Auf Rat der Bundesregierung verzichtete er schließlich auf die Reise und gratulierte dem Paar nur schriftlich. Bruder Koening schließt nicht aus, dass der Ehemann Mitarbeiter der Stasi war, und er nur deswegen zur Hochzeit eingeladen wurde, damit man ihn innerhalb der zehn Tage hätte verhaften können.

Und sogar das KvG stand unter der Beobachtung der Stasi. […] Zum Beispiel [wurde] in den Stasi-Akten vermerkt, dass Bruder Koening vom Kloster aus direkt zum Schulgelände gelangen könne, ohne öffentliche Straßen benutzen zu müssen. Für die Stasi war das eine Schutzmaßnahme seitens der Schule, womit es der Stasi unmöglich gemacht wurde, Bruder Koening genauer zu beobachten oder womöglich sogar zu entführen.

Nicht viele Menschen in Hiltrup haben von den Ausmaßen von Bruder Koenings jahrelangem„Hobby“ überhaupt etwas gewusst, aber diese wenigen vergaßen seinen Einsatz auch nach der Wende nicht. So wurde Bruder Koening auf Vorschlag des damaligen Direktors der Schule, Herrn Borgmann, der Bruder Koenings Arbeit all die Jahre über mitverfolgt hatte und ihm oft eine Hilfe war, sogar mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Am 1. Juli 1991 wurde ihm die Auszeichnung für seine engagierten Hilfeleistungen im Rathaus in Münster überreicht. […] „Als der Anruf kam, ich sollte das Bundesverdienstkreuz bekommen, da habe ich spontan gesagt: ,Geben Sie es einer Mutter mit vier Kindern.’ Das ist meine Einstellung, denn die hat es eher verdient, da sie Tag und Nacht für ihre Kinder da sein muss. Gut, ich habe meine Freizeit ein bisschen geopfert....“ [1]

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende des Kalten Krieges war Bruder Koening in Sachen Nächstenliebe nicht in den Ruhestand gegangen! In derselben uneigennützigen, bescheidenen und tatkräftig zupackenden Weise, wie sie hier zum Ausdruck kommt, leistete er danach noch viele Jahre unermüdlich Hilfe für das Gebiet von Kaliningrad (Königsberg, nördliches Ostpreußen). Über die “Aktion Königsberg“ ist ebenfalls auf dieser Homepage zu lesen; s. Jahreszahlen in der Kopfleiste!

[1] Dorothee Kühn, Anne Schemann, Eva-Maria Silies: „Feindzentrale“ Onkel Theo. 600 Kontakte in die DDR - Ein Ordensbruder mit außergewöhnlichem Hobby. In: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1996, Münster 1996

*SED = "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands": Kader- und Staatspartei, die die DDR de facto im Ein-Parteien-System beherrschte
**Stasi = "Ministerium für Staatssicherheit" oder "Staatssicherheitsdienst": Geheimpolizei, Überwachungs- und Repressionsapparat der DDR