Toleranz – „Anders als du denkst!“?

14. Interdisziplinärer Studientag am KvG 2017

24.02.2017 „Lass den doch einfach in Ruhe, wenn jemand so ist, der kann ja nix dafür, er is´ ja so geboren.“ – So der Kommentar eines etwa 5-Jährigen, der mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit das Thema „Toleranz“ angeht. Dass diese Herangehensweise vielleicht wünschenswert, aber nicht leicht umzusetzen und die Problematik natürlich auch etwas komplizierter ist, wurde am Mittwoch, dem 22.02.2017, beim mittlerweile 14. Interdisziplinären Studientag deutlich. Die bereits im Vorfeld von den Schülerinnen und Schüler formulierten Fragen machten klar, dass in der momentanen Zeit das Thema „Toleranz“ prominent platziert werden muss, es auch keinesfalls vollständig besprochen oder gar „abgedroschen“ ist: Schützt Bildung vor Intoleranz? Ist Toleranz immer gut und richtig? Welche Formen versteckter Intoleranz gibt es? Ist Deutschland ein tolerantes Land? Und: Was bedeutet Toleranz überhaupt?
Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau stellte fest, dass Toleranz Kenntnis und Verstehen voraussetzt, nicht ein für alle mal errungen werden kann, immer wieder an Grenzen stößt, vor neue Fragen und neue Aufgaben gestellt wird. So sei Toleranz also wohl etwas Aktives.
Dieses „Aktiv-sein“ ermöglichten zahlreiche Referenten unter dem Thema des diesjährigen Studientages, Toleranz – „Anders als du denkst!“?, die sich bereiterklärt hatten, ihre Expertise und Zeit zur Verfügung zu stellen. Einen ganzen Tag lang widmeten sich die Oberstufenschüler der Q1 – abseits vom regulären Unterrichtsbetrieb – in einem Wechsel von Vortrag, Workshops sowie Podiumsgespräch der Suche nach persönlichen Zugängen und Antworten rund um das facettenreiche Thema.
Michael Müller, Sozialwissenschaftler der Universität Siegen, der sich unter anderem mit Konflikt- und Gewaltforschung sowie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit befasst, war idealer Einstiegsreferent, der den Schülerinnen und Schülern einführend den Begriff „Toleranz“ in seiner Unterscheidung der Begriffe Duldung, Koexistenz, Respekt und Wertschätzung näher brachte und verdeutlichte, dass reine Toleranz, also „Duldung“ anderer Menschen, Positionen oder Handlungen für eine moderne Gesellschaft nicht ausreichend sein kann. Vielmehr müsse eine wertschätzende Haltung leitend werden, um Vorurteile nachhaltig abbauen und ein friedliches Miteinander sichern zu können.
Damit der Studientag seinen Anspruch der Interdisziplinarität erfüllen kann, waren die Schülerinnen und Schüler aufgerufen, zwischen neun Arbeitsgemeinschaften zu wählen, die in zweiten Phase des Tages zusammenkamen und sich dem Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln näherten.
Die Ergebnisse der Arbeitsgemeinschaften konnten im dritten Teil des Tages zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden: Im als Podiumsgespräch gestalteten letzten Abschnitt des Tages verbanden die Schülerinnen Rahel Schulte und Lynn Offer, mit Unterstützung von Mechthild Theilmeier-Wahner, die Expertisen der Referenten mit den Ergebnissen der Arbeitsgemeinschaften sowie zahlreichen Fragen seitens des Plenums. Hier wurde z.B. die Frage nach Grenzen der Toleranz angesprochen: Sollen unsere Verfassung und die darauf basierenden Gesetze die Richtschnur für zu Tolerierendes und nicht mehr Tolerierbares markieren oder brauchen wir an dieser Stelle auch moralische Diskurse innerhalb unserer Gesellschaft? Zwischendurch präsentierten auch die kreativen Workshops ihre Ergebnisse: Texte und Collagen machten deutlich, wie tief sich die Schülerinnen und Schüler in die Thematik eindenken wollten und auch konnten.
„Lass den doch einfach in Ruhe, wenn jemand so ist, der kann ja nix dafür, er is´ ja so geboren.“ Dass es so einfach nicht immer ist, wird allen Teilnehmern des Tages deutlich bewusst (geworden) sein. Dass Toleranz Aktivität erfordert, dass es keine bloße Haltung ist, sondern Handeln erfordert, haben die Schülerinnen und Schüler erkannt und gemeinsame Schritte in diesem aktiven Prozess getan.
Für das Team des Studientages: M. Hagemann
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Arbeitsgemeinschaften


Zwischen Pegida und Willkommenskultur – Polizeiarbeit in Zeiten gesellschaftlicher Zerreißproben. (Dr. Wolfgang Schulte, Sozialwissenschaftler und Historiker an der Deutschen Hochschule der Polizei, Münster)
In der UNESCO Erklärung der Toleranzprinzipien von 1995 wird dem Staat die Aufgabe zugewiesen, durch seine Gesetzgebung und Anwendung der Gesetze dafür zu sorgen, dass Gerechtigkeit und Unparteilichkeit als Grundlage für Toleranz gewährleistet werden können. Die Polizei ist als Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols der Garant der Inneren Sicherheit und des inneren Friedens in einer Gesellschaft. In der täglichen Arbeit ist sie dabei in besonderem Maße mit den Spannungen angesichts der aktuellen Probleme besonders stark konfrontiert und wird von vielen Seiten besonders kritisch beäugt. Wie geht die Polizei mit diesen Anforderungen um? Welche Probleme werden innerhalb der Polizei diskutiert?
Mögliche Themen/Anknüpfungspunkte: Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern, die „Kölner Silvesternacht“, Rechts-Links-Demos, Schutz von Flüchtlingen/Flüchtlingsheimen,
Ausländerkriminalität,…

Toleranz im Jugendstrafrecht (Dr. Torsten Obermann, Jugendrichter)
Wenn Jugendliche straffällig werden, gilt es sorgfältig abzuwägen zwischen der gerechten Strafe auf der einen Seite und einer erzieherischen Wirkung auf der anderen.
Dabei spielt der soziale Hintergrund der Täter eine wichtige Rolle, die mit bedacht werden muss. Wo liegen hier die Spielräume eines Jugendrichters? Was muss man tolerieren? Anhand von einigen Fallbeispielen könnt ihr selbst ein Urteil bilden und nachher mit Herrn Obermann diskutieren, wie das Gericht tatsächlich geurteilt hat.

Toleranz kreativ (Meinhard Schulte, Lehrer des KvG)
"Was ist Toleranz? Was hat sie mit mir zu tun? Was erlaube ich mir? Was gönne ich anderen?"
In möglichst kreativer Form (Collagen, Zeichnungen, Schreibtexten etc. oder alles gemischt...) wollen wir uns einer Standortbestimmung annähern, was Toleranz uns selbst und anderen gegenüber bedeuten kann."

Toleranz und Medien (Karin Völker, Journalistin/Westfälische Nachrichten)
Zum Berufsethos des Journalisten gehört es, vorurteilsfrei zu recherchieren und zu berichten. Toleranz im Hinblick auf Meinungsvielfalt ist die zwingende Voraussetzung von sachgerechter Information und ausgewogener Berichterstattung in einer freien, demokratisch-pluralistischen Gesellschaft. Doch die Toleranzbereitschaft von Journalisten etablierter Medien wie Zeitungen, Radio und Fernsehen wird aktuell zunehmend auf die Probe gestellt. Die Berichterstattung wird in sozialen Netzwerken als Lügenpresse diffamiert, Leserkommentare kommen nicht selten als unflätige Schimpfkanonaden daher.
Müssen Redaktionen jeder noch so lautstark vorgetragener Kritik nachgehen, sich mit jeder provokanten Meinungsäußerung auseinandersetzen? Leisten sie dem Urteil von Populisten und Fanatikern jeder Couleur Vorschub, wenn sie deren Meinungsäußerungen vernachlässigen oder ignorieren? Die politisch aufgeheizte Stimmung in einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft und die Macht der sozialen Netzwerke fordern die traditionellen Medien und deren Toleranzgebot auf neue Weise heraus. Was gehört berichtet, was nicht? Hat freie Meinungsäußerung Grenzen? Wo wird Toleranz zur Beliebigkeit? Spannende Zeiten im Journalismus, auch täglich hier vor Ort in Münster.

Sind Mülleimer tolerant? – Ein poetry-workshop (Jonas Dirker, ehem. KvG-Schüler)
Toleranz heißt Dinge zu dulden, die einem nicht immer ganz in den Kram passen. Das geht nur, wenn man die Sichtweise eines anderen Standpunktes einnehmen kann und sich mit dem „Anderssein“ der anderen beschäftigt, sich für sie interessiert. Wenn man die eigene Toleranzfähigkeit hinterfragt und aktiv eintritt für eine tolerante Gesellschaft.
Wir wollen uns dem Thema auf kreative Art und Weise nähern. Sind Mülleimer tolerant, weil sie unseren ganzen Abfall, ohne zu meckern, akzeptieren? Sind sie damit das große Vorbild für uns alle? Lehnen wir andere Meinungen, Lebensweisen, Haltungen nicht schon deshalb ab, weil wir sie nur für Müll halten? Wann ist aber möglicherweise auch die Grenze von Toleranz erreicht? Ist Ausländerfeindlichkeit das, was für den Eimer der Atommüll ist? Falsch zugeordnet, inakzeptabel, gehört dort nicht hin?
Ob Gedicht, Geschichte oder Raptext, ob alleine oder in einer Kleingruppe: Du bekommst die Chance, deinen Gedanken zum Thema auf eigene Art und Weise Ausdruck zu verleihen. Standpunkte sehen, Menschen verstehen, Meinung ok oder ne?

Toleranz gegenüber Flüchtlingen (und Muslimen) (Dr. Stefan Leibold, Pastoralassistent/Arbeitsfelder: Flüchtlingsarbeit, Pax Christi-Bewegung, Politisches Engagement)
Wie tolerant sind wir gegenüber Flüchtlingen? Bevor wir darüber sprechen, werden einige Zahlen zu Einwanderung und Flucht präsentiert.
Am Beispiel einer Tagesschausendung werden die medialen Narrative zum Thema erläutert, die unsere Vorstellungen und Wahrnehmungen prägen.
Solche Narrative beeinflussen stark unser Toleranzverständnis und -empfinden. Wenn in der Diskussion noch Zeit bleibt, werden wir mit Blick auf die Einstellungen von Muslimen zu Deutschland und den Deutschen zu Muslimen unter Berücksichtigung des „Religionsmonitors 2015“ auf die Toleranz gegenüber Muslimen zu sprechen kommen.

„Ist alles so schön bunt hier“ – Spuren von Toleranz im Kurzfilm (Stefan Logemann, Medienpädagoge)
In unserem Workshop versuchen wir, uns einzelnen Facetten von Toleranz mit Hilfe ausgewählter Kurzfilme zu nähern und diese zu diskutieren. Im Vordergrund stehen dabei die Fragen: Vertritt ein Film, was er erzählt? Welche Fragen stellt er? Wie (be-)trifft mich der Film? Was erzählt er über das Andere, den Anderen, die Andere/-n? Können wir etwas mit dem Film anfangen? Was können wir mit dem Film anfangen?

Ungefiltert: So bringst du deine Informationsblase zum Platzen (Oliver Auditor, Lehrer des KvG)
Intoleranz und Ausgrenzung ernähren sich häufig von gruppenspezifischen Klischees und Ressentiments. Im Internet verbreiten sich radikale Meinungen begleitet von Falschmeldungen und unverhohlener Propaganda rasend schnell. Unsichtbar aber nicht weniger folgenreich erzeugen immer intelligentere Algorithmen eine personalisierte Illusion der (Online-)Welt, welche die eigenen Sichtweisen stärkt und kontrahierende Blickwinkel ausblendet.
Tolerieren heisst ertragen, und zwar gegen die eigene Überzeugung. Das hat nur in einer Gesellschaft Platz, die den offenen Widerstreit der Meinungen kennt. Deshalb muss man als Nachrichtenkonsument aktiv seine Informationsblase zerstechen, andere Meinungen wahrnehmen und mehrere Blickwinkel verfolgen. Nur so lässt sich eine fundierte Meinung bilden. Nur so lässt sich überprüfen ob das eigene Weltbild zumindest noch lose auf der Realität basiert.
Der Workshop möchte den Versuch unternehmen einige Mechanismen von Filterblasen, Propaganda und populistischer Meinungsbildung im Internet offen zu legen und Tipps geben, wie man die ungewollte Personalisierung von Suchergebnissen umgehen kann.

„Es ist auch mein Land“ – Gesellschaftliche Verantwortung aus Perspektive christlicher Nächsten- und Gottesliebe. (Stefan Orth, Student der Katholischen Theologie, Initiator Münster Gegen Pegida, Vorstandsmitglied Grüne Münster)
In Deutschland bezeichnen Politiker/innen das Gedenken an den Holocaust offen als „Schande“, Großbritannien will sich aus der Europäischen Union zurückziehen und während der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika „Amerika first!“ in die Mikrophone schreit, werden hunderte Millionen Menschen weltweit nur aufgrund ihrer Nationalität und Religion an der Einreise in ebendieses Land gehindert. Der Gottesbezug ist dabei oft nicht weit: Längst haben rechtsextreme/rechtsnationale/rechtspopulistische Parteien überall auf der Welt einen Schulterschluss mit „besorgten Bürgern“ geschlossen, die sich dabei nicht scheuen, sich auf angeblich christliche Werte zu stützen. Das Abendland will gebührend verteidigt werden…
Aber was kann politisches Handeln aus christlicher Perspektive im Kontext aktueller Gesellschaftlicher Umbrüche heißen? Kann ich mich als Christ aus der Verantwortung ziehen? Welche Chancen und welche Herausforderungen sind damit verbunden und vor allem: Welchen Stellenwert haben Nächsten- und Gottliebe in diesem Zusammenhang?
Diese und weitere Themen werden wir gemeinsam behandeln, mögliche Ursachen beleuchten und mögliche Handlungsoptionen am Beispiel „Münster Gegen Pegida“ erarbeiten.