Literaturtreff 2012/13


Offenheit für Neues aus Tradition: KvG-Literaturkreis feiert 20-jähriges Bestehen


Die Faszination ist groß, als Alfons Böcker, Ideengeber und langjähriger Moderator des Literaturkreises um Ruhe bittet, um frei ein langes Gedicht zu rezitieren, das mit den Worten beginnt: „Als er siebzig war und war gebrechlich, drängte es den Lehrer doch zur Ruh“. Brechts „Legende von der Entstehung es Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ steht Pate für den Weg, den die Gruppe in den zwanzig Jahren ihres Bestehens beschritten hat. Getreu dem Fazit des Gedichtes „man muss den Weisen ihre Weisheit erst entreißen“ geht es den Gesprächsteilnehmern darum, sich aktiv um das Verständnis moderner Literatur zu bemühen und sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Böcker ist einer der Ehrengäste der Feier aus Anlass des zwanzigjährigen Bestehens des von Franz-Josef Lütke Schelhowe gegründeten Gesprächskreises. Dieser, ebenfalls Ehrengast, erinnert in seinem Beitrag an die Gründungsveranstaltung vom Mai 1993 und zeigt sich erfreut darüber, dass viele Teilnehmer der ersten Stunde noch heute mit ihrer reichen Leseerfahrung die Diskussionen des literarischen Zirkels bereichern.
Zur Feier des Tages gibt es einen Empfang mit Imbiss und eine Ansprache des Schulleiters, der die Autorin Stephanie von Wietersheim zitiert: „Wo Bücher wohnen, da ist Leben, Freiheit, Farbe und Fantasie. Wo Menschen Bücher lesen, wächst Erkennen, Hoffnung, innere Revolte. Und wo man über Bücher spricht, lebt der Disput, flammt Passion.“ Herr Zopes ergänzt mit Blick auf die Runde: „Wer in diesen Kreis kommt, der nimmt etwas mit.“ Mit Vergnügen machen sich dann die Gäste des Jubiläumsabends an ein Literaturquiz mit Zitaten aus den mittlerweile rund achtzig besprochenen Werken, das von den Moderatorinnen Barbara Wiegmann und Mechthild Theilmeier-Wahner erstellt worden ist und den Literaturexperten einiges abverlangt. Schließlich kommt aber auch an diesem Tag die aktuelle Literatur zu ihrem Recht. Gut eingespielt und humorvoll wirft sich die Runde unter Leitung von Katrin Nacke im Gespräch über das Buch des Abends die Bälle zu. Diesmal geht es um Moritz Rinkes Roman „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“, um den engagiert gestritten wird.
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Ein Gesprächskreis zur Gegenwartsliteratur lebt von seiner Neugier auf aktuelle künstlerische Trends und spannende Themen. Er lebt auch von immer wieder neuen Ideen und versteht sich daher als offener Kreis für alle, die sich auf moderne Literatur einlassen und ihre Sichtweise zur Diskussion stellen wollen. Neue Teilnehmer sind daher jederzeit herzlich willkommen.
Mechthild Theilmeier-Wahner

Büchern die Weisheit entrissen

20 Jahre Literaturtreff am KvG

Münster-Hiltrup. Die meisten der 15 Frauen und Männer haben das Buch, um das es geht, gelesen. Nun sitzen sie in der Bücherei des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums – im Offenen Literaturtreff, der vor 20 Jahren ins Leben gerufen wurde.
Zum Jubiläum gibt es Häppchen und ein Quiz vorweg: Mechthild Theilmeier-Wahner und Barbara Wiegmann vom Moderatoren-Team lesen im Wechsel längere Passagen aus bisher besprochenen Büchern. Die Teilnehmer blicken auf die Zettel vor sich: 79 Titel stehen darauf – welcher ist dabei? „Ah, ich weiß“ – „Ah, ich auch“, tuscheln zwei Frauen. [...]
Alfons Böcker [...] war der erste, der die Gespräche leitete. Ihm folgten Fritz Vorspel, 2007 dann Theilmeier-Wahner. Sie wechselt sich nun ab mit Wiegmann und, wie heute, Katrin Nacke. Sie alle sind Deutsch-Lehrerinnen. Auch Eltern moderierten schon.
Gedichte hätten immer wieder zum Programm gehört, erinnert Böcker und rezitiert ein längeres von Brecht. Es sei ein Verdienst, dem Weisen Weisheit abzuringen, laute die Botschaft des Gedichts. Das mache der Treff auf gewisse Weise auch: den Büchern Weisheit zu entreißen. Es sei motivierend, über Bücher am Leben anderer teilzunehmen, heißt es in der Runde.
Intensiv wird das Buch des Tages besprochen: „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ von Moritz Rinke. Die Ansichten sind verschieden: „Ein ganz großes Vergnügen“ bis „bedingt lustig“, über „ich hätte noch 300 Seiten mehr ertragen“ bis zu dem Satz „nach Seite 148 habe ich aufgehört“.
Jeder kommt hier ungebremst zu Wort, ohne dass jemand monologisiert. Jeder kann argumentieren, auch Fragen stellen: Wer sei denn nun und inwiefern „gefallen“? Sei das eher ein Opfer oder einer, der mehr aus seinem Leben hätte machen können? Das Gespräch kommt auf den heutigen Umgang mit Kunst, den Niedergang von Worpswede. Vieles klärt sich. Es bleibt das angebissene Stück Butterkuchen „als letztes ungelöstes Rätsel“ dieses Werks, sagt Nacke schließlich.
Zum Schluss freut sich eine Frau, beim Austausch dabei gewesen zu sein: Die Lektüre hätte sie sonst unbefriedigt gelassen. Die Runde wählt das nächste Buch der Gegenwartsliteratur. Es wird die „Die Attentäterin“ von Yasmina Khadra sein – am 4. September ab 20 Uhr.
Dr. Johannes Hasenkamp, Westfälische Nachrichten 23.05.2013
22.5.
2013
Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel. KiWi 2010
Worpswas? Worpswede! Ausgerechnet als Paul Wendland mit seinem Leben und seinen kuriosen Kunstprojekten in die Zukunft starten will, holt ihn die Vergangenheit ein: In Worpswede drohen das Haus seines Großvaters und sein Erbe im Moor zu versinken. Die Reise zurück an den Ort der Kindheit zwischen mörderischem Teufelsmoor, norddeutschem Butterkuchen und traditionsumwitterter Künstlerkolonie nimmt eine verhängnisvolle Wendung ...
Mit seinem furiosen Romandebüt hat Moritz Rinke bereits unzählige Leser begeistert. Mit hinreißender Tragikomik erzählt er von unheimlichen Familiengeheimnissen, vom Künstlerleben, von Ruhm, Verführung und Vergänglichkeit, vom Lieben und Verlassenwerden und von einem Dorf im hohen Norden, das berühmt ist für seinen Himmel und das flache Land.
Moritz Rinke, geb. 1967 in Worpswede, studierte 'Drama, Theater, Medien' in Gießen, und zählt zu den erfolgreichsten deutschen Gegenwartsdramatikern. Sein Stück 'Republik Vineta' wurde 2001 in der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theater heute“ zum besten deutschsprachigen Theaterstück gewählt und 2008 für das Kino verfilmt. Im Sommer 2002 gelangte bei den Festspielen in Worms seine Neudichtung der 'Nibelungen' zur Uraufführung, die in den Folgejahren ein großes Publikum fand. 'Café Umberto' (2005) wurde bereits an neun Theatern gespielt. Einige seiner Reportagen, Kurzgeschichten und Essays wurden mehrfach ausgezeichnet. Moritz Rinke lebt in Berlin und ist Gastprofessor für Szenisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
Münstersche Zeitung 23.05.2013
6.3.
2013
Fegefeuer. Deutsch von Angela Plöger. btb 2012
Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch Äußerstes zu tun im Stande – das zeigt dieser hoch spannende Roman über zwei Frauen, die sich wie zufällig begegnen und die doch eine gemeinsame Geschichte verbindet. Als Aliide Tru, eine alte Frau, die allein in einem Bauernhaus auf dem estnischen Land lebt, ein Bündel in ihrem Garten findet, das sich als junge Frau entpuppt, schluckt sie ihre Skepsis und Menschenverachtung herunter und nimmt Zara in ihr Haus auf. Doch Zara sucht keineswegs so zufällig Unterschlupf bei Aliide, wie diese glaubt: Aliide könnte die Schwester ihrer Großmutter sein. Während Zara noch Beweise für die Verwandtschaft sucht, fühlt sich Aliide von der jungen Frau bedroht: Zu oft musste sie Leib und Seele, Hab und Gut vor Eindringlingen schützen. Atemlos vor Spannung liest man über das Schicksal zweier Frauen, die ganz unterschiedliche und im Kern doch vergleichbare Erfahrungen machen.
Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Mit ihrem dritten Roman "Fegefeuer" gelang ihr der literarische Durchbruch: Der Roman stand monatelang auf Platz eins der finnischen Bestsellerliste, wurde in 38 Länder verkauft und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Finlandia-Preis, dem Nordischen Literaturpreis und dem Europäischen Buchpreis.
28.11.
2012
Die große Welt. Deutsch von Dirk van Gunsteren. Rowohlt 2011
«Keiner, der über New York schrieb, ist jemals tiefer eingetaucht und höher aufgestiegen.» (Frank McCourt) Im Jahr 1974 sind die Menschen in New York müde von Richard Nixon und dem Vietnamkrieg. Sie haben auch so schon Probleme genug in einer Stadt des ewigen Überlebenskampfes. Am Morgen eines schönen Augustsommertags starren die Passanten in Lower Manhattan daher ungläubig zu den Twin Towers hinauf. Fast einen halben Kilometer über ihnen läuft, springt und tanzt ein Hochseilartist – ein schwebender Moment von absoluter Freiheit und künstlerischem Triumph. Doch unten in den Straßen geht das Leben weiter, für die Armen und die Reichen, die Sorglosen und die Unglücklichen Ausgezeichnet mit dem National Book Award.
Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award for Irish Literature und den Rooney Prize. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.
29.8.
2012
Angerichtet. Deutsch von Heike Baryga. Kiepenheuer & Witsch 2011
Ein Abend im Sternerestaurant. Zwei Elternpaare – eine lebenswichtige Entscheidung. Der preisgekrönte Bestseller aus den Niederlanden erzählt ein Familiendrama, das um die Fragen kreist: Wie weit darf Elternliebe gehen? Was darf man tun, um seine Kinder zu beschützen? Ein Roman, der ins Herz schneidet. Zwei Ehepaare – zwei Brüder und ihre Frauen – haben sich zum Essen in einem Spitzenrestaurant verabredet. Sie sprechen über Filme und Urlaubspläne und vermeiden zunächst das eigentliche Thema: die Zukunft ihrer Söhne Michel und Rick. Die beiden Fünfzehnjährigen haben etwas getan, was ihr Leben für immer ruinieren kann. Paul Lohman, der Erzähler und Vater von Michel, will das Beste für seinen Sohn. Und ist bereit, dafür weit zu gehen, sehr weit. Auch die anderen am Tisch haben ihre eigene, geheime Agenda. Während des Essens brechen die Emotionen auf, schwelende Konflikte zwischen den Brüdern entladen sich, und auf einmal steht eine Entscheidung im Raum, die drei der vier mit aller Macht verhindern wollen. Mit unglaublicher Raffinesse und großem Sprachwitz erzählt Herman Koch eine Geschichte von bedingungsloser Liebe, Gewalt und Verrat. Nach und nach nur werden die wahren Abgründe und Motive der Personen sichtbar, ständig wird der Leser herausgefordert, sein moralisches Urteil neu zu fällen. Angerichtet ist ein aufwühlender Roman, der lange nachhallt. Ein starkes Stück Literatur. www.amazon.de
Herman Koch (* 5. September 1953 in Arnhem) ist ein niederländischer Schriftsteller und Schauspieler.
Als Comedian-Schauspieler wurde Koch bekannt besonders mit der Comedy-Fernsehserie Jiskefet (Friesisch für „Aschenbecher“), die rund 15 Jahre lang lief. Darüber hinaus ist er längst ebenso prominent als Schriftsteller und als Kolumnist bei der Amsterdamer Tageszeitung De Volkskrant.
Kochs fünfter Roman, Het diner, stand 2009 für sieben Monate an der Spitze der niederländischen Bestsellerliste. „Da, wo deutsche Erzählungen gerne in Tiefsinn oder Schwermut abkippen, kippen die niederländischen mit Lust in den hintergründigen, schwarzen Humor.“ Thema ist die von einem skrupellosen Zyniker als Erzähler geschilderte Verabredung zur Vertuschung eines von den Söhnen begangenen Totschlags. Die Verhandlungen zwischen den beiden Eltern-Ehepaaren finden während eines gemeinsamen Abends beim Dinner im Sternerestaurant statt. Es handelt sich also um eine spannende, hintersinnige und witzige Aufdeckung bürgerlicher „Moral“-Praxis im Sinne eines Claude Chabrol.
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