Literaturtreff 2009/10


Dass der seit 17 Jahren bestehende Literaturkreis eine feste Größe im Schulleben des KvG wie auch allgemein im Hiltruper Kulturleben geworden ist, zeigt sich in seiner beachtlichen Größe. Von den vierzig Personen, auf die der Teilnehmerkreis inzwischen angewachsen ist, nehmen in der Regel jeweils zwanzig an einem Literaturabend teil und beteiligen sich dort an den intensiven, oft kontroversen Diskussionen um Sprache, Form und Inhalt der zur Diskussion stehenden Romane.
Im Schuljahr 2009/10 spielten zwei der vier Werke im Zweiten Weltkrieg. Wie unterschiedlich dieses zutiefst tragische Ereignis des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Teilen der Welt seine Spuren hinterlassen hat, zeigte der Vergleich zwischen Julia Francks Roman „Mittagsfrau“, der das Schicksal einer unter falscher Identität lebenden jüdischen Deutschen schildert, die auf der Flucht vor Verfolgung sich auf die Ehe mit einem hochrangigen Nazi einlässt, und dem Epos von Jaume Cabré, der die Wirren und jahrzehntelangen Auswirkungen des spanischen Bürgerkriegs und des ihm folgenden Faschismus in einem Pyrenäendorf schildert. Die Verleihung des Literaturnobelpreises an die deutsch schreibende und in die Bundesrepublik emigrierte Rumänin Herta Müller nahmen die Literaturinteressierten dann Anfang des Jahres zum Anlass, sich mit einem der anspruchsvollen und bildreichen Texte dieser Autorin auseinanderzusetzen, der unter dem Titel „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ ein erschreckendes Bild vom Ceaucescu-Regime zeichnet. Mit dem in der New Yorker Boheme angesiedelten Künstler- und Familienroman „Was ich liebte“ der Amerikanerin Siri Hustvedt klang die literarische Saison aus. Bewährt hat sich erneut der vor zwei Jahren eingeleitete Wechsel der Moderatoren, der auch in diesem Schuljahr für Abwechslung im thematischen wie methodischen Bereich sorgte. Ein herzlicher Dank gilt diesbezüglich Franz-Josef Lütke Schelhowe, Katrin Nacke, Susanne Lemper und Barbara Wiegmann. Am 29. September steht „Die Eleganz des Igels“ von Muriel Barbery auf dem Programm. Neue Teilnehmer sind jederzeit herzlich willkommen.
Mechthild Theilmeier-Wahner
28.4.
2010
Was ich liebte. Deutsch von Uli Aumüller, Erica Fischer und Grete Osterwald. Rowohlt 2004
Der sachliche, ruhige Leo schildert rückblickend, wie er Bill kennen lernte und sogleich bewunderte, wie dieser Karriere zu machen begann. Er erzählt von seiner Frau Erica, wie sie sich kennen lernten - beide stammen sie aus jüdischen Emigrantenfamilien - von den Söhnen, die beide Paare fast zeitgleich bekommen.[...]
Wie ein großer Herzmuskel spaltet sich das Buch in zwei Teile, inhaltlich markiert durch den Unfalltod des Sohnes von Leo und Erica, der die schleichende Entfremdung des Paares zur Folge hat, die schließlich in der Trennung mündet: Erica nimmt den Ruf einer anderen Universität an und zieht weg. Leo dagegen schließt sich noch enger Bill und Violet an und beobachtet mit Argusaugen die Entwicklung ihres Sohnes Marc, seine Geburtstage, sein aufkeimendes Interesse an der Kunst. Die Mischung aus Wut, Verdrängung und tiefer, ernster Trauerarbeit, die im Blick dieses Mannes auf das fremde Kind liegt, ist sehr anrührend. Das Aufwachsen des Jungen konterkarieren die Passagen, in denen Bill sein eigenes Älterwerden, seinen Verfall diagnostiziert.
Eine kriminalistische Spannung entwickelt "Was ich liebte", wenn der Generationenkonflikt zwischen Marc und seinen Eltern in den Vordergrund rückt. [...]
Am Ende ist "Was ich liebte" das gelungene Porträt einer amerikanischen Künstler- und Intellektuellengeneration, die aufgeklärt, diskussionsfreudig und ehrgeizig doch auf ihre spezielle Weise erkennen muss, wo der Wille aufhört und das Schicksal eingreift.
Silke Scheuermann in: Der Standard, Wien 18.1.2003
Siri Hustvedt (* 19. Februar 1955 in Northfield, Minnesota) ist eine US-amerikanische Schriftstellerin.
Hustvedt ist die älteste von vier Töchtern von Lloyd Merlyn Hustvedt (1922–2004), einem Professor für norwegische und amerikanische Geschichte, und der in Norwegen geborenen Ester Vegan. Sie wuchs zweisprachig auf. Seit sie vierzehn Jahre alt war, wollte sie Schriftstellerin werden und schrieb schon während ihrer Highschool-Zeit Gedichte. Sie studierte Englische Literatur und machte 1986 ihren PhD an der Columbia University.
1982 heiratete sie den Schriftsteller Paul Auster, den sie ein Jahr zuvor kennengelernt hatte. Das Paar lebt in Brooklyn nahe dem Prospect Park mit seiner 1987 geborenen Tochter Sophie und Austers Sohn aus erster Ehe. Hustvedts bekannteste Romane sind Die Verzauberung der Lily Dahl (1997) und Was ich liebte (2003). Nach dem Roman Die Leiden eines Amerikaners (2008) erschien im Januar 2010 Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. [...]
www.wikipedia.de
3.2.
2010
Der Fuchs war damals schon der Jäger. Fischer 2010
Herta Müller macht den Horror der rumänischen Diktatur lebendig.
Warum kann ein Schriftsteller eine Diktatur nicht lebendig beschreiben? Weil eine Diktatur die Sprache ins Gefängnis wirft und die Grammatik an die Kette legt. Eine Diktatur verhaftet alles, auch die Wörter, und im vergitterten Auge der Sprache verwandelt sich das Leben in einen Totentanz. Und dieser Totentanz – das ist die Diktatur.
Der Fuchs war damals schon der Jäger heißt der Roman, in dem Herta Müller (geboren 1953) nach ihrer Emigration in die Bundesrepublik den Horror der rumänischen Diktatur beschrieben hat. Als das Buch 1992 erschien, war Ceausescu schon fast drei Jahre tot, und auch sein System war gut analysiert, die Securitate, der Terror im Namen des Kommunismus, die Willkür und das Kesseltreiben gegen freie Geister.
Doch Herta Müller wollte eine andere Grausamkeit zeigen, sie wollte zeigen, wie die Diktatur die Wahrnehmung zerstört, wie ihre Propaganda die Bedeutung aus der Sprache prügelt. Weil den Wörtern, das ist die Idee des Romans, der Mund verboten wurde, stirbt der Sinn, und die Angst wächst »unter die Haut« und infiziert alles mit dem Tod. [...] Die Dinge bekommen menschliche Fratzen, und die Menschen grinsen wie Dinge. »Wo bei anderen das Herz ist, ist bei denen ein Friedhof.«
Herta Müllers Roman ist nicht nur eine große Allegorie auf die rumänische Dunkelzeit, er ist die Inschrift auf dem Grabstein des totalitären Kommunismus, das Epitaph auf ein System, das die Menschen zur Freiheit erlösen wollte, aber Sklaven produziert hat.[...]
www.zeit.de
Herta Müller (* 17. August 1953 in Nitzkydorf, Rumänien) […], deren Familie zur deutschen Minderheit in Rumänien gehörte, wurde […] im Banat geboren. Ihr Großvater war ein wohlhabender Bauer und Kaufmann. Er wurde unter dem kommunistischen Regime in Rumänien enteignet. Ihre Mutter wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu jahrelanger Zwangsarbeit in die UdSSR deportiert. Ihr Vater, ehemals Soldat der Waffen-SS, verdiente seinen Lebensunterhalt als Lkw-Fahrer. […] Nach dem Abitur studierte sie […] Germanistik und Rumänistik. Ab 1976 arbeitete Herta Müller als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik, wurde allerdings 1979 nach ihrer Weigerung, mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate zusammenzuarbeiten, entlassen. […].
In Temeswar stand Herta Müller zunächst den Autoren der Aktionsgruppe Banat nahe. [...] Nach der Zerschlagung der Gruppe durch die Securitate im Jahre 1976 organisierten sich die Autoren wieder im offiziellen Literaturkreis der Temeswarer Schriftstellervereinigung. […] In diesem Schriftstellerkreis war Herta Müller die einzige Frau. Ihr erstes Buch Niederungen, dessen Manuskript vor der Veröffentlichung über vier Jahre vom Verlag zurückgehalten wurde, konnte 1982 in Rumänien, wie alle Publikationen, nur in stark zensierter Fassung erscheinen. […]
Nachdem sie dreimal auf Besuch in der Bundesrepublik Deutschland gewesen war […], reiste Herta Müller 1987 […] in die Bundesrepublik Deutschland aus. […]
1998 wurde sie auf die „Brüder-Grimm-Gastprofessur“ der Universität Kassel berufen, 2001 hatte sie die Tübinger Poetik-Dozentur inne, 2005 war sie „Heiner-Müller-Gastprofessorin“ an der Freien Universität in Berlin, wo sie heute lebt. […] Im Jahr 2009 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur für ihr sprachgewaltiges Gesamtwerk über die rumänische Diktatur.
www.wikipedia.de
4.11.
2009
Die Stimmen des Flusses. Deutsch von Kirsten Brandt. Suhrkamp 2008
Was geschah wirklich am 18. Oktober 1944 in dem Pyrenäenort Torena? Als Tina Bros sechs Jahrzehnte später in der alten Dorfschule ein hinter der Schiefertafel verborgenes Tagebuch entdeckt, ahnt sie nicht, dass sie an Dinge rührt, die in ihrer Verquickung aus Schuld und Scham, aus Leidenschaft und Fanatismus das ganze Drama einer schlimmen Zeit spiegeln. Noch weniger ahnt sie, dass der Schatten von damals bis in ihre eigene Gegenwart ragt. Ein großer, dramatischer Roman über das eng verflochtene Schicksal einer Handvoll Menschen, die der Spanische Bürgerkrieg zu Gegnern und zu Liebenden macht.
Der Roman "Die Stimmen des Flusses" wurde mit dem Preis der spanischen Kritik ausgezeichnet.
Jaume Cabré (* 1947 in Barcelona) ist ein katalanischer Philologe und Schriftsteller.
Cabré machte den Hochschulabschluss in Katalanischer Philologie an der Universitat de Barcelona (UB). Er wurde Studienrat auf Befreiung und Professor an der Universität Lleida (UdL) und ist Mitglied an der Philologischen Abteilung des Institut d’Estudis Catalans (IEC).
Viele Jahre lang kombinierte er den Beruf des Schriftstellers mit dem Lehrberuf. Als Drehbuchautor arbeitete er sowohl für das Fernsehen als auch für die Filmindustrie. Zusammen mit Joaquim Maria Puyal war er Erfinder und Drehbuchautor der ersten Fernsehserie im katalanischen Fernsehsender (TV3): La Granja (1989–1992), später folgten andere Titel wie Estació d’Enllaç (1994–1998), Crims (2000) und die Fernsehfilme La dama blanca (1987), Nines russes (2003) und Sara (2003). Gemeinsam mit Jaume Fuster, Vicenç Villatoro und Antoni Verdaguer verfasste er das Drehbuch zum Film von Antoni Verdaguer La teranyina (1990), das auf dem Roman von Jaume Cabré basiert. Mit dem gleichen Team schrieb er auch das Drehbuch Havanera (1993).
19.8.
2009
Die Mittagsfrau. Fischer 2009
Eine idyllische Kindheit in der Lausitz am Vorabend des ersten Weltkriegs, das Berlin der goldenen Zwanziger, die große Liebe: So könnte das Glück klingen, denkt Helene. Aber steht ihr die Welt wirklich offen? Helene glaubt unerschütterlich daran, folgt ihren Träumen und lebt ihre Gefühle - auch gegen die Konventionen einer zunehmend unerbittlichen Zeit. Dann folgt der zweite große Krieg, Hoffnungen, Einsamkeit - und die Erkenntnis, dass alles verloren gehen kann. Julia Franck erzählt in ihrem großen neuen Roman ein Leben, das in die Mühlen eines furchtbaren Jahrhunderts gerät, und die Geschichte einer faszinierenden Frau.
Für ihren Roman „Die Mittagsfrau“ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007.
Julia Franck (* 20. Februar 1970 in Ost-Berlin) ist eine deutsche Schriftstellerin.
Julia Franck wurde 1970 in Berlin-Lichtenberg [...] geboren. Ihre Mutter ist Schauspielerin, ihr Vater Regisseur. Julia Franck ist Enkelin der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger und Ururenkelin des Malers Philipp Franck. 1978 reiste Francks Mutter mit ihren vier Töchtern über das Notaufnahmelager Marienfelde aus und konnte nach neun Monaten nach Schleswig-Holstein in die Nähe von Rendsburg ziehen. Dort besuchte Julia Franck [...] die Freie Waldorfschule. Ab 1983 lebte sie bei Freunden in Berlin und holte 1991 das Abitur nach. In ihrer offiziellen Biografie hebt sie hervor, dass sie neben dem Studium der Fächer Jura, Altamerikanistik, Neuere deutsche Literatur und Philosophie an der FU Berlin „sieben lange Jahre als Putzfrau, zehn kurze Jahre als Kindermädchen, drei nicht zu verachtende Jahre als Kellnerin, sowie als Hilfsschwester, Phonotypistin, wissenschaftliche Hilfskraft an der Freien Universität und auch als freie Mitarbeiterin für das Radio und verschiedene Zeitungen“ gearbeitet habe; unter anderem war sie Regieassistentin in der Abteilung Feature/Hörfunk beim Sender Freies Berlin. Außerdem hielt sie sich einige Monate in den Vereinigten Staaten, in Mexiko und in Guatemala auf. Sie lebt als alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kindern in Berlin-Friedenau. Das Jahr 2005 verbrachte sie als Stipendiatin in der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom. Seit 2001 ist Franck Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland. 2010 berichtete sie im Zeitmagazin, der Unfalltod ihres ersten Freundes 1992 sei das Erlebnis gewesen, das sie am meisten prägte.