Literaturtreff 2008/09


Auch wenn sich mit dem ersten Roman des Schuljahres, „Afrikanische Tragödie“ der Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing ein neuer geografischer Schwerpunkt als Thema des Literaturkreises anzudeuten schien, kam es anders als erwartet. Mit drei Romanen, die in den europäische Hauptstädten London, Prag und Berlin spielten, wurde die Frage nach den Lebensbedingungen moderner Großstädte zu einem Leitmotiv dieses Schuljahres. Leo Perutz' Roman „Unter der steinernen Brücke“ bewegte sich dabei im Spannungsfeld zwischen traditioneller jüdischer Mystik und modernen gesellschaftlicher Entwicklungen im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, während Jan McEwan und Uwe Timm zeitgeschichtliche Ereignisse an der Wende zum 21. Jahrhundert zum Anlass ihres Schreibens nahmen. So schildert McEwan in „Saturday“ das Leben einer englischen Familie kurz vor dem Ausbruch des Irakkrieges und Uwe Timm in „Rot“ die Befindlichkeit der Berliner Gesellschaft am Vorabend des Umzuges der Bundesregierung nach Berlin. Beide Bücher berichten aus der Perspektive von Menschen der einstmals revolutionären Nachkriegsgeneration, die in ihrer Lebensmitte Rückblick und Ausblick halten und dabei ihre Lebensentscheidungen im Spiegel ihrer Utopien reflektieren.
Wie immer bescherten die Bücher dem Gesprächskreis spannende Abende, in denen sowohl über inhaltliche Zusammenhänge diskutiert als auch über die literarische Qualität der Bücher - oft leidenschaftlich und immer kontrovers - gestritten wurde. Ein besonderer Dank gilt Paul Bröker, der einen „Moderations-Hattrick“ landete, indem er sich dreimal hintereinander bereit erklärte, die Gespräche zu leiten. Neue Teilnehmer sind stets herzlich willkommen.
Mechthild Theilmeier-Wahner
13.5.
2009
Rot. dtv 2003
In seinem 2001 erschienenen und hochgelobten Roman erzählt Uwe Timm von den Hoffnungen und Wünschen der 68er, von Lebensläufen und ihren Geheimnissen, von den Utopien und Verbrechen unserer Geschichte und von der Kostbarkeit des Lebens. Die Geschichte vom Jazzkritiker und Beerdigungsredner Thomas Linde, von seiner Liebesaffäre mit der zwanzig Jahre jüngeren Lichtdesignerin Iris, von Aschenberger, der tot ist und die Siegessäule sprengen wollte – die Geschichte eines unvollendeten Lebens.
Uwe Timm wurde 1940 in Hamburg geboren. Er absolvierte eine Lehre als Kürschner, besuchte das Braunschweigkolleg, bestand sein Abitur und studierte Germanistik und Philosophie in München und Paris. 1967/68 engagierte er sich politisch im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). 1971 promovierte er über Das Problem der Absurdität bei Camus und arbeitet seitdem als freier Schriftsteller. 1981 war er Writer in residence an der Universität Warwick, Großbritannien, gefolgt 1981-1983 von einem Aufenthalt in Rom. 1991/92 hatte er die Paderborner Gastdozentur für Schriftsteller inne. Seit Herbst 1994 ist er ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland und der Akademie der Künste. Heute lebt er als freier Schriftsteller in München und Berlin.
11.2.
2009
Nachts unter der steinernen Brücke. dtv 2002
Im Zentrum dieses magischen historischen Romans steht die legendenumwobene Gestalt des hohen Rabbi Loew. Nur er kann das Rätsel um die Strafe Gottes lösen, die 1589 als großes Kindersterben über die Prager Judenstadt hereinbricht. Ratsuchend beschwört er übernatürliche Mächte, und diese führen ihn zu einem Vergehen, das er selbst begangen hat - eines Nachts unter der steinernen Brücke. Im Bannkreis dieses Vergehens bewegt sich nun ein ganzer Mikrokosmos - bunte Gestalten, von den Narren und Bettlern, die die Gassen und Spelunken der „Goldenen Stadt“ bevölkern, bis hin zum Kaiser Rudolf selbst und seiner Geliebten, der schönen Jüdin Esther. Doch keine der handelnden Figuren durchschaut das komplexe Geflecht von Liebe, Schuld und Sühne: Nur der Leser überblickt - souverän und quasi gottgleich an der Seite des meisterhaften Erzählers Perutz - das ganze kunstvolle Muster, das lebendige historische Tableau, die zaubervolle versunkene Welt.
Leo Perutz wurde am 2. November 1882 in Prag geboren und siedelte 1899 mit seiner Familie nach Wien über. In der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zählte er zu den meistgelesenen Erzählern deutscher Sprache. 1938 emigrierte Perutz nach Tel Aviv. Er starb 1957 während eines Österreichbesuchs. Sein Werk umfasst zahlreiche Romane und Erzählungen und wurde in viele Sprachen übersetzt. In seinen Romanen begegnen sich Historisches und Phantastisches.
12.11.
2008
Saturday. Deutsch von Bernhard Robben. Diogenes 2007
Henry Perowne, Neurochirurg, 48, ist ein glücklicher Mann. Als wohlhabender Mann hat er ein wohl geregeltes Leben. So scheint sein freier Samstag klar vor ihm zu liegen: Er wird Squash spielen mit seinem Kollegen. Dann will er Fisch kaufen und kochen für ein Festessen im Kreis der Familie. Dieser Samstag aber ist kein beliebiger Samstag, es ist der 15. Februar 2003. Mit seinem Mercedes S500 versucht Henry auf dem Weg zum Squash Hunderttausende von Demonstranten gegen den Irakkrieg weiträumig zu umfahren. In Gedanken versunken, rammt er den Seitenspiegel des roten BMWs eines Kleinganoven. Drei Typen steigen aus … „Saturday“ ist ein Buch über die Zerbrechlichkeit des Glücks und die Verwundbarkeit der westlichen Welt.
Ian McEwan, geboren 1948, lebt in London. Schon seine ersten Erzählungen wurden 1976 mit dem Somerset-Maugham-Award ausgezeichnet. 1998 erhielt er den Booker Preis für „Amsterdam“, im Jahr darauf den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung für das Gesamtwerk. „Abbitte“ erhielt nicht nur amerikanische und britische Preise, sondern wurde außerdem 2004 in Santiago de Compostela als „Bester Europäischer Roman“ ausgezeichnet. Ian McEwan ist Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences.
13.8.
2008
Afrikanische Tragödie. Fischer 2007
Die Farmersfrau Mary Turner ist von ihrem schwarzen Hausdiener ermordet worden. Der Fall wird als typisches Verbrechen eines "minderwertigen Schwarzen" heruntergespielt. Erst im Lauf der Erzählung, die in den dreißiger und vierziger Jahren in Rhodesien spielt, erfährt man, wie es unausweichlich zu diesem Mord kommen musste. Mary ist in sehr ärmlichen Verhältnissen groß geworden. Mit dreißig heiratet sie Richard Turner und geht mit ihm auf seine einsame Farm. Eines Tages wird der schwarze Farmarbeiter Moses, dem sie einmal jähzornig mit der Peitsche ins Gesicht geschlagen hat, als Diener ins Haus geholt. Mary ahnt, dass er sich für den Peitschenhieb, der ihn zutiefst gekränkt hat, rächen wird.
Doris Lessing wurde 1919 als Tochter eines britischen Offiziers in Persien geboren und wuchs auf einer Farm in Rhodesien auf. 1949 kam sie nach London, wo ein Jahr später ihr Roman "Afrikanische Tragödie" erschien, der ihr viel Erfolg und Anerkennung brachte. Doris Lessing wird zu den Klassikern der Moderne gezählt. Im Jahre 2007 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.