Fritz Vorspel (r.) leitete das Literaturgespräch im KvG. Zu den Teilnehmern gehörte auch der Initiator der Runde, Franz Josef Lütke Schelhowe (2.v.r.). Foto: kus

Literaturtreff 2004/05


Vielschichtige Diskussion über einen vielschichtigen Roman

Literaturgespräch im KvG über „Die Vertreibung aus der Hölle“

Äußerst vielschichtig ist der Roman “Die Vertreibung aus der Hölle“ von Robert Menasse. Auf drei Erzählebenen breitet der Wiener Autor die Lebensgeschichten der beiden in verschiedenen Zeitepochen lebenden jüdischen Gelehrten Menasseh Ben Israel und Viktor Abravanel aus. Mit der genauen Darstellung der dramatischen Lebensumstände unter der Bedrohung der Inquisition im 17. Jahrhundert und dem über weite Strecken satirisch erzählten Handlungsstrang im 20. Jahrhundert vereint das Buch höchst unterschiedliche Qualitäten. Reichlich Gesprächsstoff bot „Die Vertreibung aus der Hölle“ den Teilnehmern des Literaturgespräches im Kardinal-von-Galen-Gymnasium.
„Mit einiger Mühe und Anstrengung“ habe er den fast 500 Seiten starken Roman gelesen, gab Gesprächsleiter Fritz Vorspel eingangs zu. Mit zwei längeren Zitaten gestaltete er den Einstieg in die Diskussion.
„Geschickt gemacht“ fand ein Teilnehmer den steten Wechsel zwischen den Ebenen. In kurzen Abschnitten springt Menasse zwischen den sich in vielen Details entsprechenden Lebensläufen hin und her. Die „tollen satirischen Darstellungen“ wurden genauso gelobt wie die saubere Ausarbeitung der Charaktere. „Wie ein Gemälde“ habe eine Teilnehmerin das Buch beim Lesen empfunden.
Aber auch kritische Töne schlugen die Gesprächsteilnehmer an. Der historische Anteil der Handlung sei nicht stimmig, fand eine Leserin. Der lockere Sprachstil bei der Schilderung der aktuelleren Ereignisse falle im Verhältnis zur genauen Erzählweise im historischen Teil ab, urteilte eine andere Teilnehmerin. „Es ist einfach zu viel drin“, lautete eine weitere Stimme.
Fritz Vorspel, der als ehemaliger Deutsch-Lehrer des KvG seit fünf Jahren die Literaturgespräche leitet, lenkte mit einigen genauen Beobachtungen die Diskussion durch die vielen sich bietenden Verzweigungen. So verwies er darauf, dass kleine Details, die in verschiedenen Zusammenhängen auftauchen, die beiden Geschichten aneinanderbinden. Das übergeordnete Thema des Buches sei die “Frage nach Macht und Ohnmacht“.
Nach mehr als eineinhalb Stunden schloss Vorspel die Runde mit dem letzten Satz des Romans: „Im Dunklen ist alles vorstellbar.“ „Eine ganze Menge Probleme haben wir erhellt“, fügte der Initiator des vor zehn Jahren gegründeten offenen Gesprächskreises, Franz-Josef Lütke Schelhowe, an.
Markus Schönherr, Westfälische Nachrichten 03. 12. 2004
13.4.
2005
Der Besuch des Leibarztes. Deutsch von Wolfgang Butt. Fischer 2001
Historischer Roman um die tragisch-romantische Beziehung zwischen dem Hofarzt Struensee und der vereinsamten dänischen Königin Caroline Mathilde.
Zwei Jahrzehnte vor dem Ausbruch der französischen Revolution kommt der Arzt und Aufklärer Struensee aus Altona an den Hof des dänischen Königs Christian VII. Ein kleinwüchsiger, kindlicher, kranker König, der mit der dreizehnjährigen englischen Prinzessin Caroline Mathilde verheiratet wurde, die weinte, als sie nach Dänemark reiste. „Die Königin ist einsam, nehmen Sie sich ihrer an!“ befiehlt der König seinem Leibarzt. Und die drei werden Figuren einer unaufhaltsamen und bewegenden Tragödie.
Enquist erzählt mit der Distanz eines Berichterstatters. Dabei passiert etwas Wunderbares: Aus der Sachlichkeit entsteht ein leidenschaftlicher Roman über Macht und Politik... Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen möchte. Max Ezpp, Stern
Per Olov Enquist, 1934 in einem Dorf im Norden Schwedens geboren, lebt in Stockholm. Er arbeitete als Theater- und Literaturkritiker und zählt heute zu den bedeutendsten Autoren Schwedens. Für seinen Roman „Der Besuch des Leibarztes“ wurde er in Leipzig mit dem Deutschen Bücherpreis 2002 ausgezeichnet.
9.2.
2005
Abbitte. Deutsch von Bernhard Robben. Diogenes 2004
Eine englische Familientragödie, in der es um das Thema Schuld und Sühne und die Schwierigkeiten der Vergebung geht.
Der Roman beginnt im Sommer 1935, als sich die dreizehnjährige Briony Tallis im Landhaus ihrer Familie in die Angelegenheiten ihrer älteren Schwester einmischt und durch ihre blühende Phantasie Schicksal spielt. Das Leben dreier Menschen wird dadurch für immer verändert.
Der zweite Teil schildert - auch in vielen Briefen - auf eindrucksvolle Art das Leben der Beteiligten in Kriegszeiten. Sie sind zu verantwortungsvollen jungen Menschen herangewachsen. Ihre Vergangenheit lässt sie dennoch nicht unberührt.
Der dritte Teil wartet mit einem überraschenden Schluss auf.
Abbitte ist eines der seltenen Bücher, die spannend und unterhaltsam sind, aber auch auf hohem Niveau zum Nachdenken über elementare Fragen einladen.
Jan McEwan, geb. 1948, verbrachte seine Kindheit in England, Singapur und Nordafrika. Sein Philologiestudium beendete er mit einer literarischen Magisterarbeit, die ihm den Somerset-Maugham-Preis einbrachte. Auch für die Romane „Amsterdam“ und „Abbitte“ erhielt er renommierte Literaturauszeichnungen.
1.12.
2004
Die Vertreibung aus der Hölle. Suhrkamp 2003
Der Erzähler geht den Parallelen in den Lebensgeschichten zweier jüdischer Männer aus verschiedenen Jahrhunderten nach.
Viktor Abravanel, geboren 1955 in Wien, stammt aus einer Familie von Naziopfern. Er wurde Historiker, Spezialist für die Frühe Neuzeit. Bei einem Spinoza-Kongress soll er die Frage beantworten: „Wer war Spinozas Lehrer?“ Diese Arbeit und die damit verbundenen Recherchen mögen ihn auf die Idee gebracht haben, bei einem 25-jährigen Abiturtreffen die Frage zu stellen: Wer waren u n s e r e Lehrer?“ Der Lehrer des Philosophen Baruch Spinoza war der Rabbiner Samuel Manasseh ben Israel, geboren 1604 in Lissabon, der vor der Inquisition nach Amsterdam flüchtete. Die Rekonstruktion dieser Biographie und Viktors Erinnern an seine Schüler- und Studentenzeit zeigen verblüffende Parallelen.
„Das Porträt der beiden jüdischen Gelehrten... ist ein Glücksfall literarischer Ahnenforschung.“ Iris Radisch, Die Zeit
Robert Menasse, geboren 1954 in Wien, studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft. Er lebt als Romancier und Essayist in Wien und Amsterdam.
8.9.
2004
Die Korrekturen. Deutsch von Bettina Abarbanell. Rowohlt 2003
Nach fast fünfzig Ehejahren hat Enid Lambert nur ein Ziel: ihre Familie zu einem letzten Weihnachtsfest um sich zu scharen. Alles könnte so schön sein, gemütlich, harmonisch. Doch Parkinson hat ihren Mann Alfred immer fester im Griff, und die drei erwachsenen Kinder durchleben eigene tragikomische Malaisen. Der älteste, Gary, stellvertretender Direktor einer Bank und Familienvater, steckt in einer Ehekrise und versucht mit aller Macht, seine Depressionen klein zu reden. Der mittlere, Chip, steht am Anfang einer vielversprechenden Karriere als Literaturprofessor, aber Liebestollheit wirft ihn aus der Bahn, und er findet sich in Litauen wieder als verlängerter Arm eines Internet-Betrügers. Und das jüngste der Lambert-Kinder, die erfolgreiche Meisterköchin Denise, sinkt ins Bett eines verheirateten Mannes und setzt so, in den Augen der Mutter zumindest, Jugend und Zukunft aufs Spiel.
Erzähft werden so “auf den Spuren der großen Realisten des 19. Jahrhunderts“ fünf Lebensgeschichten, zusammen gehalten vom “Mythos Familie“. Daneben entwirft Franzen auch ein Panorama der neunziger Jahre mit Themen wie Gentechnik, Aktienboom, Internetrevolution oder Political Correctness.
Jonathan Franzen, 1959 in Western Springs/Illinois geboren, wuchs in einer Vorstadt von St. Louis auf. Er studierte in den USA und in Deutschland und lebt heute in New York. Für seinen Bestseller-Roman „The Corrections“ erhielt er 2001 den National Book Award.