Literaturtreff 1993/94


23.2.
1994
Was vom Tage übrigblieb. Rowohlt 1990
Stevens ist Butler auf Darlington Hall - seit mehr als 30 Jahren. Er verkörpert alles, was das Berufsbild des Butlers ausmacht; vollkommene Dienstbeflissenheit, Ergebenheit, Loyalität - und vor allem Würde.
Jetzt, einige Jahre nach dem Krieg, ist nicht mehr Lord Darlington der Hausherr; der Landsitz wurde von einem Amerikaner aufgekauft, der ihm auch rät, eine kleine Reise zu machen.Diese Reise nutzt Stevens, um die frühere Haushälterin aufzusuchen, die ihm gerade erst auch geschrieben hatte. Sie war noch vor dem Krieg weggegangen, um zu heiraten.
Während der Fahrt kann er nicht verhindern, dass ihm die Vergangenheit wieder lebhaft vor Augen steht; er sieht noch einmal die Zeit, als bei Lord Darlington führende Politiker aus und ein gingen, der sich intensiv in die Beziehungen zu Deutschland eingearbeitet hatte. Lord Darlington war beseelt vom Gedanken des Fair-Play; man tritt einen am Boden liegenden Feind nicht mehr. Wie sehr er dabei manipuliert wurde, erkennt er zu spät.
Kazuo Ishiguro, geboren 1954 in Nagasaki, kam im Alter von sechs Jahren nach England. Er studierte Anglistik und Philosophie und war danach eine Zeitlang als Sozialarbeiter tätig. Kazuo Ishiguro lebt mit Frau und Kind in London. www.leselust.de
1.12.
1993
Rituale. Deutsch von Hans Herrfurth. Suhrkamp 1985
Inni Wintrop führt das Leben eines modernen, großstädtischen Taugenichts. Seine Leidenschaft gilt den Frauen und allem Ästhetischen. Seine Existenzgrundlage verdankt er dem Ex-Liebhaber einer exzentrischen Tante, Arnold Taads, der bei Innis’ betuchter Familie ein kleines Vermögen für den verstoßenen Spross erlangte. Taads selbst wurde durch das egoistische Verhalten des Clans zum Menschenfeind; er bevorzugt klösterliche Abgeschiedenheit und erfriert in den Alpen.
Zufällig lernt Inni Wintrop bei einem Kunsthändler Taads Sohn Philip kennen. Der Anhänger des Zen-Buddhismus hat sich in eine reinweiße Dachstube eines heruntergekommenen Amsterdamer Hauses zurückgezogen. Philip bildet sich ein, das echte, reine Japan zu verkörpern. Nach jahrelanger Suche findet er eine besonders seltene Teeschale. Er lädt Inni Wintrop und den Kunsthändler zu einer traditionellen Teezeremonie ein. Wenig später ertränkt er sich; in seinem Zimmer findet man die zertrümmerte Teeschale.
Durch die Konfrontation mit den beiden extremen Existenzen reift Inni Wintrop. Zu Beginn wollte er Hand an sich legen, da seine Frau ihn verlassen hatte und ihm vor dem Älterwerden graute. Am Ende bejaht er das Leben und seine Unvollkommenheiten. www.amazon.de
Cees Nooteboom wurde 1933 in Den Haag geboren. 1955 erschien sein erster Roman (Philip en de anderen), der drei Jahre später auch in Deutschland unter dem Titel Das Paradies ist nebenan veröffentlicht wurde (und 2003 in der Neuübersetzung von Helga van Beuningen unter dem Titel Philip und die anderen erneut eine große Lesergemeinde fand). Nooteboom berichtete 1956 als junger Autor über den Ungarn-Aufstand, 1963 über den SED-Parteitag, und fünf Jahre später über die Studentenunruhen in Paris (gesammelt in dem Band Paris, Mai 1968). Seine inzwischen in mehreren Bänden gesammelten Reiseberichte, die weniger Reportagen als vielmehr von genauer Beobachtung getragene, reflektierende Betrachtungen sind, festigten Nootebooms Ruf als Reiseschriftsteller. 1980 fand Nooteboom zurück zur fiktionalen Prosa und erzielte mit dem inzwischen auch verfilmten Roman Rituale (Rituelen) große Erfolge. Sein umfangreiches Werk, das in viele Sprachen übersetzt ist, umfaßt Erzählungen, Berichte, Gedichte und vor allem große Romane wie Allerseelen (Allerzielen). Die neun Bände seiner Gesammelten Werke enthalten neben den bereits publizierten Büchern zahlreiche erstmals auf deutsch vorliegende Texte.
Cees Nooteboom lebt in Amsterdam und auf Menorca. www.suhrkamp.de
1.9.
1993
Wer die Vergangenheit stiehlt. Deutsch von Klaus Fröba. Rowohlt 1990
Eine Wissenschaftlerin ist drauf und dran, ein altes Rätsel der Anthropologie zu lösen. Doch dann verschwindet sie auf einmal in einem Ausgrabungsgebiet. Die Navajo-Cops Jim Chee und Joe Leaphorn stellen fest, dass dort wertvolle Keramiken gestohlen wurden. Ist die Anthropologin den Dieben der Vergangenheit auf die Spur gekommen?
Tony Hillerman wurde 1925 als Sohn eines Farmers in Oklahoma geboren und besuchte acht Jahre lang als Tagesschüler ein Internat für Indianer. Neben seinen Tätigkeiten als Journalist und Dozent an der University of New Mexico begann er Ende der sechziger Jahre Kriminalromane zu schreiben. Für seine Ethnothriller um die Navajo-Cops Jim Chee und Joe Leaphorn erhielt er von der Vereinigung der amerikanischen Krimi-Autoren den Edgar Allan Poe Award und den Grandmaster Award. Hillermans Romane wurden in siebzehn Sprachen übersetzt. Der sechsfache Vater lebt mit seiner Frau in Albuquerque, New Mexico. www.amazon.de
12.5.
1993
Traumpfade. Deutsch von Anna Kamp. Fischer 1990
Arkady Wolschok, ein Australier russischer Herkunft, führt den Erzähler in die mysteriöse Welt der Aborigines ein. Der Kosmopolit mit Universitätsabschluss hat Java, Indien, Afghanistan und große Teile Europas bereist. Nun versucht er im trocken-heißen Nordterritorium Australiens beim Straßen- und Eisenbahnbau oder bei Ölbohrungen zu verhindern, dass die heiligen Stätten der Aborigines zerstört werden.
Traumpfade ist Reisebuch, Abenteuergeschichte, Ideenroman und Fortschrittssatire, geistige Autobiografie und romantische Komödie zugleich. Auf seiner Initiationsreise begegnet der Erzähler einem Panoptikum schräger Persönlichkeiten. Militante Ureinwohner verteidigen ihr Land gegen die Einflüsse der Zivilisation wie Fast Food, Alkoholismus und Umweltverschmutzung. Christliche Missionare wachen eifersüchtig über ihre "eingeborenen" Schafe, weiße Siedler breiten sich mit rücksichtsloser Arroganz aus. www.amazon.de
Bruce Chatwin wurde 1940 in Sheffield geboren und starb im Alter von neunundvierzig Jahren in Nizza. Über sein Leben schuf er eine Art Privatmythologie: Derzufolge studierte er einige Semester Archäologie in Edinburgh und arbeitete sich im Auktionshaus Sotheby’s in London vom Portier zum Leiter der Impressionismus-Abteilung hoch. Als die Ärzte seine Erblindung befürchteten, gab er seine Stelle auf und begann zu reisen. Er durchquerte Afghanistan und Sibirien, hielt sich einige Zeit an der Elfenbeinküste auf – und landete am 19. Dezember 1982 in Sydney, um auf Wanderungen in Australien etwas vom Leben der Aborigines zu erfahren.
1977 fing Bruce Chatwin mit dem Reisebericht „In Patagonien“ eine Schriftsteller-Karriere an. Sein Buch „Der Vizekönig von Quidah“ (1980) wurde 1987 von Werner Herzog unter dem Titel „Cobra Verde“ mit Klaus Kinski in der Hauptrolle verfilmt. Wirklich bekannt wurde Bruce Chatwin 1987 mit dem Roman „Traumpfade“. Dieter Wunderlich