Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu
lernen
Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheit,
und wußte sich in alles wohl zu schicken, der Jüngste aber war dumm,
konnte nichts begreifen und lernen: und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie:
„Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!“ Wenn nun etwas zu
tun war, so mußte es der Älteste allzeit ausrichten, hieß ihn
aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg
ging dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete
er wohl: „Ach nein, Vater, ich gehe nicht dahin, es gruselt mir,“
denn er fürchtete sich. Oder, wenn abends beim Feuer Geschichten erzählt
wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal:
„Ach, es gruselt mir!“ Der Jüngste saß in einer Ecke
und hörte das mit an, und konnte nicht begreifen, was es heißen sollte.
„Immer sagen sie: es gruselt mir! es gruselt mir! Mir gruselts nicht:
das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe.“
Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach: „Hör du,
in der Ecke dort, du wirst groß und stark, du mußt auch etwas lernen,
womit du dein Brot verdienst. Siehst du, wie dein Bruder sich Mühe gibt,
aber an dir ist Hopfen und Malz verloren.“ „Ei, Vater,“ antwortete
er, „ich will gerne was lernen; ja, wenns anginge, so möchte ich
lernen, daß mirs gruselte; davon verstehe ich noch gar nichts.“
Der älteste lachte, als er das hörte, und dachte bei sich „du
lieber Gott, was ist mein Bruder ein Dummbart, aus dem wird sein Lebtag nichts:
was ein Häkchen werden will, muß sich beizeiten krümmen.“
Der Vater seufzte und antwortete ihm: „Das Gruseln, das sollst du schon
lernen, aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen.“
Aufführung der
Theater-AG
im März 1989
Bald danach kam der Küster zum Besuch ins Haus, da klagte ihm der Vater
seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so
schlecht beschlagen wäre, er wüßte nichts und lernte nichts.
„Denkt Euch, als ich ihn fragte, womit er sein Brot verdienen wollte,
hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen.“ „Wenns weiter nichts
ist,“ antwortete der Küster, „das kann er bei mir lernen; tut
ihn nur zu mir, ich werde ihn schon abhobeln.“ Der Vater war es zufrieden,
weil er dachte: „Der Junge wird doch ein wenig zugestutzt.“ Der
Küster nahm ihn also ins Haus, und er mußte die Glocke läuten.
Nach ein paar Tagen weckte er ihn um Mitternacht, hieß ihn aufstehen,
in den Kirchturm steigen und läuten. „Du sollst schon lernen, was
Gruseln ist,“ dachte er, ging heimlich voraus, und als der Junge oben
war, und sich umdrehte und das Glockenseil fassen wollte, so sah er auf der
Treppe, dem Schalloch gegenüber, eine weiße Gestalt stehen. „Wer
da?“ rief er, aber die Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte sich
nicht. „Gib Antwort,“ rief der Junge, „oder mache, daß
du fortkommst, du hast hier in der Nacht nichts zu schaffen.“ Der Küster
aber blieb unbeweglich stehen, damit der Junge glauben sollte, es wäre
ein Gespenst. Der Junge rief zum zweitenmal: „Was willst du hier? Sprich,
wenn du ein ehrlicher Kerl bist, oder ich werfe dich die Treppe hinab.“
Der Küster dachte: „Das wird so schlimm nicht gemeint sein,“
gab keinen Laut von sich und stand, als wenn er von Stein wäre. Da rief
ihn der Junge zum drittenmal an, und als das auch vergeblich war, nahm er einen
Anlauf und stieß das Gespenst die Treppe hinab, daß es zehn Stufen
hinabfiel und in einer Ecke liegen blieb. Darauf läutete er die Glocke,
ging heim, legte sich, ohne ein Wort zu sagen, ins Bett und schlief fort. Die
Küsterfrau wartete lange Zeit auf ihren Mann, aber er wollte nicht wiederkommen.
Da ward ihr endlich angst, sie weckte den Jungen und fragte: „Weißt
du nicht, wo mein Mann geblieben ist? Er ist vor dir auf den Turm gestiegen.“
„Nein,“ antwortete der Junge, „aber da hat einer dem Schalloch
gegenüber auf der Treppe gestanden, und weil er keine Antwort geben und
auch nicht weggehen wollte, so habe ich ihn für einen Spitzbuben gehalten
und hinuntergestoßen. Geht nur hin, so werdet Ihr sehen ob ers gewesen
ist, es sollte mir leid tun.“ Die Frau sprang fort und fand ihren Mann,
der in einer Ecke lag und jammerte, und ein Bein gebrochen hatte.
Sie trug ihn herab und eilte dann mit lautem Geschrei zu dem Vater des Jungen.
„Euer Junge,“ rief sie, „hat ein großes Unglück
angerichtet, meinen Mann hat er die Treppe hinabgeworfen, daß er ein Bein
gebrochen hat: schafft den Taugenichts aus unserm Haus.“ Der Vater erschrak,
kam herbeigelaufen und schalt den Jungen aus. „Was sind das für gottlose
Streiche, die muß dir der Böse eingegeben haben.“ „Vater,“
antwortete er, „hört nur an, ich bin ganz unschuldig: er stand da
in der Nacht wie einer, der Böses im Sinne hat. Ich wußte nicht,
wers war, und hab ihn dreimal ermahnt, zu reden oder wegzugehen.“ „Ach,“
sprach der Vater, „mit dir erleb ich nur Unglück, geh mir aus den
Augen, ich will dich nicht mehr ansehen.“ „Ja, Vater, recht gerne,
wartet nur, bis Tag ist, da will ich ausgehen und das Gruseln lernen, so versteh
ich doch eine Kunst, die mich ernähren kann.“ „Lerne, was du
willst,“ sprach der Vater, „mir ist alles einerlei. Da hast du fünfzig
Taler, damit geh in die weite Welt und sage keinem Menschen wo du her bist und
wer dein Vater ist, denn ich muß mich deiner schämen.“ „Ja,
Vater, wie Ihrs haben wollt, wenn Ihr nicht mehr verlangt, das kann ich leicht
in acht behalten.“
Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge seine fünfzig Taler in die Tasche,
ging hinaus auf die große Landstraße und sprach immer vor sich hin:
„Wenn mirs nur gruselte! wenn mirs nur gruselte!“ Da kam ein Mann
heran, der hörte das Gespräch, das der Junge mit sich selber führte,
und als sie ein Stück weiter waren, daß man den Galgen sehen konnte,
sagte der Mann zu ihm: „Siehst du, dort ist der Baum, wo siebene mit des
Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben und jetzt das Fliegen lernen: setz dich
darunter und warte, bis die Nacht kommt, so wirst du schon das Gruseln lernen.“
„Wenn weiter nichts dazu gehört,“ antwortete der Junge, „das
ist leicht getan; lerne ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du meine
fünfzig Taler haben, komm nur morgen früh wieder zu mir.“ Da
ging der Junge zu dem Galgen, setzte sich darunter und wartete, bis der Abend
kam. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an, aber um Mitternacht ging
der Wind so kalt, daß er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und
als der Wind die Gehenkten gegeneinander stieß, daß sie sich hin
und her bewegten, so dachte er: „Du frierst unten bei dem Feuer, was mögen
die da oben erst frieren und zappeln.“ Und weil er mitleidig war, legte
er die Leiter an, stieg hinauf, knüpfte einen nach dem andern los, und
holte sie alle siebene herab. Darauf schürte er das Feuer, blies es an
und setzte sie ringsherum, daß sie sich wärmen sollten. Aber sie
saßen da und regten sich nicht, und das Feuer ergriff ihre Kleider. Da
sprach er: „Nehmt euch in acht, sonst häng ich euch wieder hinauf.“
Die Toten aber hörten nicht, schwiegen und ließen ihre Lumpen fortbrennen.
Da ward er bös und sprach: „Wenn ihr nicht achtgeben wollt, so kann
ich euch nicht helfen, ich will nicht mit euch verbrennen,“ und hing sie
nach der Reihe wieder hinauf. Nun setzte er sich zu seinem Feuer und schlief
ein, und am andern Morgen, da kam der Mann zu ihm, wollte die fünfzig Taler
haben und sprach: „Nun, weißt du, was Gruseln ist?“ „Nein,“
antwortete er, „woher sollte ich's wissen? Die da droben haben das Maul
nicht aufgetan und waren so dumm, daß sie die paar alten Lappen, die sie
am Leibe haben, brennen ließen.“ Da sah der Mann, daß er die
fünfzig Taler heute nicht davontragen würde, ging fort und sprach:
„So einer ist mir noch nicht vorgekommen.“
Der Junge ging auch seines Wegs und fing wieder an vor sich hin zu reden: „Ach,
wenn mies nur gruselte! Ach, wenn mirs nur gruselte!“ Das hörte ein
Fuhrmann, der hinter ihm herschritt, und fragte: „Wer bist du?“
„Ich weiß nicht,“ antwortete der Junge. Der Fuhrmann fragte
weiter: „Wo bist du her?“ „Ich weiß nicht.“ „Wer
ist dein Vater?“ „Das darf ich nicht sagen.“ „Was brummst
du beständig in den Bart hinein?“ „Ei,“ antwortete der
Junge, „ich wollte, daß mirs gruselte, aber niemand kann es mich
lehren.“ „Laß dein dummes Geschwätz,“ sprach der
Fuhrmann, „komm, geh mit mir, ich will sehen, daß ich dich unterbringe.“
Der Junge ging mit dem Fuhrmann, und abends gelangten sie zu einem Wirtshaus,
wo sie übernachten wollten. Da sprach er beim Eintritt in die Stube wieder
ganz laut: „Wenn mirs nur gruselte! wenn mirs nur gruselte!“ Der
Wirt, der das hörte, lachte und sprach: „Wenn dich danach lüstet,
dazu sollte hier wohl Gelegenheit sein.“ „Ach schweig stille,“
sprach die Wirtsfrau, „so mancher Vorwitzige hat schon sein Leben eingebüßt,
es wäre Jammer und Schade um die schönen Augen, wenn die das Tageslicht
nicht wieder sehen sollten.“ Der Junge aber sagte: „Wenns noch so
schwer wäre, ich wills einmal lernen, deshalb bin ich ja ausgezogen.“
Er ließ dem Wirt auch keine Ruhe, bis dieser erzählte, nicht weit
davon stände ein verwünschtes Schloß, wo einer wohl lernen könnte,
was Gruseln wäre, wenn er nur drei Nächte darin wachen wollte. Der
König hätte dem, ders wagen sollte, seine Tochter zur Frau versprochen,
und die wäre die schönste Jungfrau, welche die Sonne beschien: in
dem Schlosse steckten auch große Schätze, von bösen Geistern
bewacht, die würden dann frei und könnten einen Armen reich genug
machen. Schon viele wären wohl hinein-, aber noch keiner wieder herausgekommen.
Da ging der Junge am andern Morgen vor den König und sprach: „Wenns
erlaubt wäre, so wollte ich wohl drei Nächte in dem verwünschten
Schlosse wachen.“ Der König sah ihn an, und weil er ihm gefiel, sprach
er: „Du darfst dir noch dreierlei ausbitten, aber es müssen leblose
Dinge sein, und das darfst du mit ins Schloß nehmen.“ Da antwortete
er: „So bitt ich um ein Feuer, eine Drehbank und eine Schnitzbank mit
dem Messer.“
Der König ließ ihm das alles bei Tage in das Schloß tragen.
Als es Nacht werden wollte, ging der Junge hinauf, machte sich in einer Kammer
ein helles Feuer an, stellte die Schnitzbank mit dem Messer daneben und setzte
sich auf die Drehbank. „Ach, wenn mirs nur gruselte!“ sprach er,
„aber hier werde ichs auch nicht lernen.“ Gegen Mitternacht wollte
er sich sein Feuer einmal aufschüren: wie er so hineinblies, da schries
plötzlich aus einer Ecke: „Au, miau! was uns friert!“ „Ihr
Narren,“ rief er, „was schreit ihr? wenn euch friert, kommt, setzt
euch ans Feuer und wärmt euch.“ Und wie er das gesagt hatte, kamen
zwei große schwarze Katzen in einem gewaltigen Sprunge herbei, setzten
sich ihm zu beiden Seiten und sahen ihn mit ihren feurigen Augen ganz wild an.
Über ein Weilchen, als sie sich gewärmt hatten, sprachen sie: „Kamerad,
wollen wir eins in der Karte spielen?“ „Warum nicht?“ antwortete
er, „aber zeigt einmal eure Pfoten her.“ Da streckten sie die Krallen
aus. „Ei,“ sagte er, „was habt ihr lange Nägel! Wartet,
die muß ich euch erst abschneiden.“ Damit packte er sie beim Kragen,
hob sie auf die Schnitzbank und schraubte ihnen die Pfoten fest. „Euch
habe ich auf die Finger gesehen,“ sprach er, „da vergeht mir die
Lust zum Kartenspiel,“ schlug sie tot und warf sie hinaus ins Wasser.
Als er aber die zwei zur Ruhe gebracht hatte und sich wieder zu seinem Feuer
setzen wollte, da kamen aus allen Ecken und Enden schwarze Katzen und schwarze
Hunde an glühenden Ketten, immer mehr und mehr, daß er sich nicht
mehr bergen konnte: die schrien greulich, traten ihm auf sein Feuer, zerrten
es auseinander und wollten es ausmachen. Das sah er ein Weilchen ruhig mit an,
als es ihm aber zu arg ward, faßte er sein Schnitzmesser und rief: „Fort
mit dir, du Gesindel,“ und haute auf sie los. Ein Teil sprang weg, die
andern schlug er tot und warf sie hinaus in den Teich. Als er wiedergekommen
war, blies er aus den Funken sein Feuer frisch an und wärmte sich. Und
als er so saß, wollten ihm die Augen nicht länger offen bleiben,
und er bekam Lust zu schlafen. Da blickte er um sich und sah in der Ecke ein
großes Bett. „Das ist mir eben recht,“ sprach er und legte
sich hinein. Als er aber die Augen zu tuen wollte, so fing das Bett von selbst
an zu fahren, und fuhr im ganzen Schloß herum. „Recht so,“
sprach er, „nur besser zu.“ Da rollte das Bett fort, als wären
sechs Pferde vorgespannt, über Schwellen und Treppen auf und ab: auf einmal
hopp hopp! warf es um, das unterste zu oberst, daß es wie ein Berg auf
ihm lag. Aber er schleuderte Decken und Kissen in die Höhe, stieg heraus
und sagte: „Nun mag fahren, wer Lust hat,“ legte sich an sein Feuer
und schlief, bis es Tag war. Am Morgen kam der König, und als er ihn da
auf der Erde liegen sah, meinte er, die Gespenster hätten ihn umgebracht,
und er wäre tot. Da sprach er: „Es ist doch schade um den schönen
Menschen.“ Das hörte der Junge, richtete sich auf und sprach: „So
weit ists noch nicht!“ Da verwunderte sich der König, freute sich
aber und fragte, wie es ihm gegangen wäre. „Recht gut,“ antwortete
er, „eine Nacht wäre herum, die zwei andern werden auch herumgehen.“
Als er zum Wirt kam, da machte der große Augen. „Ich dachte nicht,“
sprach er, „daß ich dich wieder lebendig sehen würde; hast
du nun gelernt, was Gruseln ist?“ „Nein,“ sagte er, „es
ist alles vergeblich: wenn mir's nur einer sagen könnte!“
Die zweite Nacht ging er abermals hinauf ins alte Schloß, setzte sich
zum Feuer und fing sein altes Lied wieder an: „Wenn mirs nur gruselte!“
Wie Mitternacht herankam, ließ sich ein Lärm und Gepolter hören,
erst sachte, dann immer stärker, dann wars ein bißchen still, endlich
kam mit lautem Geschrei ein halber Mensch den Schornstein herab und fiel vor
ihm hin. „Heda!“ rief er, „noch ein halber gehört dazu,
das ist zu wenig.“ Da ging der Lärm von frischem an, es tobte und
heulte, und fiel die andere Hälfte auch herab. „Wart,“ sprach
er, „ich will dir erst das Feuer ein wenig anblasen.“ Wie er das
getan hatte und sich wieder umsah, da waren die beiden Stücke zusammengefahren,
und saß da ein greulicher Mann auf seinem Platz. „So haben wir nicht
gewettet,“ sprach der Junge, „die Bank ist mein.“ Der Mann
wollte ihn wegdrängen, aber der Junge ließ sichs nicht gefallen,
schob ihn mit Gewalt weg und setzte sich wieder auf seinen Platz. Da fielen
noch mehr Männer herab, einer nach dem andern, die holten neun Totenbeine
und zwei Totenköpfe, setzten auf und spielten Kegel. Der Junge bekam auch
Lust und fragte: „Hört ihr, kann ich mit sein?“ „Ja,
wenn du Geld hast.“ „Geld genug,“ antwortete er, „aber
eure Kugeln sind nicht recht rund.“ Da nahm er die Totenköpfe, setzte
sie in die Drehbank und drehte sie rund. „So, jetzt werden sie besser
schüppeln,“ sprach er, „heida! nun gehts lustig!“ Er
spielte mit und verlor etwas von seinem Geld, als es aber zwölf schlug,
war alles vor seinen Augen verschwunden. Er legte sich nieder und schlief ruhig
ein. Am andern Morgen kam der König und wollte sich erkundigen. „Wie
ist dirs diesmal ergangen?“ fragte er. „Ich habe gekegelt,“
antwortete er, „und ein paar Heller verloren.“ „Hat dir denn
nicht gegruselt?“ „Ei was,“ sprach er, „lustig hab ich
mich gemacht. Wenn ich nur wüßte, was Gruseln wäre!“
In der dritten Nacht setzte er sich wieder auf seine Bank und sprach ganz verdrießlich:
„Wenn es mir nur gruselte!“ Als es spät ward, kamen sechs große
Männer und brachten eine Totenlade hereingetragen. Da sprach er: „Ha
ha, das ist gewiß mein Vetterchen, das erst vor ein paar Tagen gestorben
ist, winkte mit dem Finger und rief: „Komm Vetterchen, komm.“ Sie
stellten den Sarg auf die Erde, er aber ging hinzu und nahm den Deckel ab: da
lag ein toter Mann darin. Er fühlte ihm ans Gesicht, aber es war kalt wie
Eis. „Wart,“ sprach er, „ich will dich ein bißchen wärmen,“
ging ans Feuer, wärmte seine Hand und legte sie ihm aufs Gesicht, aber
der Tote blieb kalt. Nun nahm er ihn heraus, setzte sich ans Feuer und legte
ihn auf seinen Schoß, und rieb ihm die Arme, damit das Blut wieder in
Bewegung kommen sollte. Als auch das nichts helfen wollte, fiel ihm ein: „Wenn
zwei zusammen im Bett liegen, so wärmen sie sich,“ brachte ihn ins
Bett, deckte ihn zu und legte sich neben ihn. Über ein Weilchen ward auch
der Tote warm und fing an sich zu regen. Da sprach der Junge: „Siehst
du, Vetterchen, hätt ich dich nicht gewärmt!“ Der Tote aber
hub an und rief: „Jetzt will ich dich erwürgen.“ „Was,“
sagte er, „ist das mein Dank? Gleich sollst du wieder in deinen Sarg,“
hub ihn auf, warf ihn hinein und machte den Deckel zu. Da kamen die sechs Männer
und trugen ihn wieder fort. „Es will mir nicht gruseln,“ sagte er,
„hier lerne ich's mein Lebtag nicht.“
Die Darsteller unter der Regie von Gisela und Eugen Richter
Da trat ein Mann herein, der war größer als alle andere, und sah
fürchterlich aus; er war aber alt und hatte einen langen weißen Bart.
„O du Wicht,“ rief er, „nun sollst du bald lernen, was Gruseln
ist, denn du sollst sterben.“ „Nicht so schnell,“ antwortete
der Junge, „soll ich sterben, so muß ich auch dabei sein.“
„Dich will ich schon packen,“ sprach der Unhold. „Sachte,
sachte, mach dich nicht so breit; so stark wie du bin ich auch, und wohl noch
stärker.“ „Das wollen wir sehn,“ sprach der Alte, „bist
du stärker als ich, so will ich dich gehn lassen; komm, wir wollens versuchen.“
Da führte er ihn durch dunkle Gänge zu einem Schmiedefeuer, nahm eine
Axt und schlug den einen Amboß mit einem Schlag in die Erde. „Das
kann ich noch besser,“ sprach der Junge und ging zu dem andern Amboß:
der Alte stellte sich neben hin und wollte zusehen, und sein weißer Bart
hing herab. Da faßte der Junge die Axt, spaltete den Amboß auf einen
Hieb und klemmte den Bart des Alten mit hinein. „Nun hab ich dich,“
sprach der Junge, „jetzt ist das Sterben an dir.“ Dann faßte
er eine Eisenstange und schlug auf den Alten los, bis er wimmerte und bat, er
möchte aufhören, er wollte ihm große Reichtümer geben.
Der Junge zog die Axt raus, und ließ ihn los. Der Alte führte ihn
wieder ins Schloß zurück und zeigte ihm in einem Keller drei Kasten
voll Gold. „Davon,“ sprach er, „ist ein Teil den Armen, der
andere dem König, der dritte dein.“ Indem schlug es zwölfe,
und der Geist verschwand, also daß der Junge im Finstern stand. „Ich
werde mir doch heraushelfen können,“ sprach er, tappte herum, fand
den Weg in die Kammer und schlief dort bei seinem Feuer ein. Am andern Morgen
kam der König und sagte: „Nun wirst du gelernt haben, was Gruseln
ist?“ „Nein,“ antwortete er, „was ists nur? Mein toter
Vetter war da, und ein bärtiger Mann ist gekommen, der hat mir da unten
viel Geld gezeigt, aber was Gruseln ist, hat mir keiner gesagt.“ Da sprach
der König: „Du hast das Schloß erlöst und sollst meine
Tochter heiraten.“ „Das ist all recht gut,“ antwortete er,
„aber ich weiß noch immer nicht, was Gruseln ist.“
Da ward das Gold heraufgebracht und die Hochzeit gefeiert, aber der junge König,
so lieb er seine Gemahlin hatte und so vergnügt er war, sagte doch immer:
„Wenn mir nur gruselte, wenn mir nur gruselte.“ Das verdroß
sie endlich. Ihr Kammermädchen sprach: „Ich will Hilfe schaffen,
das Gruseln soll er schon lernen.“ Sie ging hinaus zum Bach, der durch
den Garten floß, und ließ sich einen ganzen Eimer voll Gründlinge
holen. Nachts, als der junge König schlief, mußte seine Gemahlin
ihm die Decke wegziehen und den Eimer voll kaltem Wasser mit den Gründlingen
über ihn herschütten, daß die kleinen Fische um ihn herumzappelten.
Da wachte er auf und rief: „Ach was gruselt mir, was gruselt mir, liebe
Frau! Ja, nun weiß ich, was Gruseln ist.“