Der Autor |
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| Alfred Vollmer |
Entstehung und Vorbereitung
Das kann man doch selber schreiben...
der längste Stoßseufzer, der über meine Lippen gekommen ist,
lässt sich nicht in einem Atemzug aussprechen, sondern zieht sich derart
hin, dass er eigentlich gar nicht mehr ein Stoßseufzer genannt werden
dürfte; vielmehr ist er eher ein lang anhaltendes Lamento oder, richtiger
noch, eine nicht aufhören wollende Selbstanklage. Wie auch immer, jedenfalls
ertappe ich mich seit geraumer Zeit immer häufiger dabei, dass ich mit
mir selbst rede, in der Art dieser armen, verstörten Menschen, die laut
vor sich hin schimpfend über den Prinzipalmarkt gehen und die neugierigen,
befremdeten oder verächtlichen Blicke der Passanten auf sich ziehen. Was
ich mir in den Zeiten solcher Verstörung selbst sage, wessen ich mich dann,
unterbrochen von Pausen dumpfen Grübelns, selbst anklage, lässt sich
etwa wie folgt zusammenfassen:
Wenn, sage ich mir selbst, wenn jemals wieder ein junger, unternehmungslustiger,
zu allen Hoffnungen berechtigender Kollege (Fächer: Kunst und Deutsch)
dir ein Video zeigt und die Aufzeichnung die Aufführung einer Theatergruppe
der früheren Schule des Kollegen wiedergibt, ein Musical, das seinerseits
eine Adaption einer berühmten filmischen Parodie von Dracula-Filmen für
die Bühne ist, und wenn dann der junge Kollege die erwartungsvolle Frage
an dich richtet, ob man (oder sagte er schon: wir?) dieses Stück nicht
auch an unserer Schule, dem KvG, aufführen könnte (sagte er schon,
ob wir das nicht könnten?), dann wirst du nicht, innere Bereitschaft verratend,
darauf eingehen, sondern du wirst allenfalls, allenfalls, sage ich, eine höfliche
Anteilnahme zeigen, die dein wahres Desinteresse mehr durchblicken lässt
als verbirgt, und vor allem wirst du es dir verbieten, dich dahingehend zu äußern:
dass dich zwar das Abkupfern einer Aufführung einer Theatergruppe einer
anderen Schule nicht interessiere, vor allem dann nicht, wenn es sich um ein
Musical handle, das seinerseits wieder die Adaption einer berühmten filmischen
Parodie von Vampirfilmen für die Bühne sei, dass dagegen eine eigenständige
theatralische Version des Dracula-Stoffes (also keine Bearbeitung einer Bearbeitung
einer Bearbeitung) bei dir durchaus auf Gegenliebe stoßen und dich aus
der Reserve locken könne; keinesfalls aber wirst du dich zu den Worten
hinreißen lassen: „Das kann man doch selber schreiben...“,
keinesfalls!
Aber du hast es getan, du hast die Worte fallen lassen: ,,Das kann man doch selber
schreiben...“, so von obenhin, leichthin und, wie du heute weißt,
leichtsinnig und leichtfertig. Welcher Teufel hat dich geritten, als du das sagtest?
Erhofftest du dir etwa die Krönung deiner pädagogischen Laufbahn? Hättest
nicht gerade du, mit so vielen Dienstjahren auf dem Buckel, wissen müssen,
dass die Pensionierung die Krönung der pädagogischen Laufbahn ist! Und
dass vorher die Maxime gilt: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Und dass besonders
in den Jahren kurz vor der Krönung Schonung angesagt ist, damit du die Jahre
nach der Krönung noch lange als pensionsgekröntes Haupt genießen
kannst! Gut, du konntest nicht wissen, was auf dich zukommen würde, wenigstens
nicht völlig.
Aber das entschuldigt dich nicht, denn dir waren doch zur Zurückhaltung
mahnende Lebensregeln, die der sprichwörtliche Volksmund eigens für
dich erfunden hat, zumindest nicht unbekannt, solche goldenen Worte wie z. B.:
Hochmut kommt vor dem Fall, oder: Heute noch auf stolzen Rossen, morgen durch
die Brust geschossen.
Irrtümer, die man sofort erkennt, sind nicht weiter tragisch, weil meistens
reparabel. Du stellst dich z. B. wider besseres Wissen, sagen wir, auf ein Snowboard
mit dem üblichen Ergebnis: Beinbruch. Wenn dann sofort die Einsicht kommt:
Falsch! gefolgt von dem Entschluss: Einmal Snowboard und nie wieder Snowboard!,
dann kannst du das abtun und vergessen. Gips drüber! Schwamm drüber!
Schlimmer, viel schlimmer sind Irrtümer, die du als solche gar nicht erkennst
oder von denen du bis kurz vor dem (bitteren?) Schluss nie genau weißt,
ob es eigentlich Irrtümer sind. Du lässt dich Schritt für Schritt
auf sie ein, immer in dem Gefühl, du hast den Rücken noch frei, du kannst
das Ganze noch abbrechen, wenn etwas falsch läuft.
Am gefährlichsten sind Irrtümer, wo anfangs alles gut läuft.
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Am Anfang lief alles gut. Das Schreiben war harte Arbeit, bereitete aber auch
Vergnügen. Das Ergebnis gefiel den Kollegen, die von Anfang an dabei waren,
und vermochte auch zögernde Naturen zur Mitarbeit zu bewegen. Was aber
wurde aus deiner Absicht, es beim Schreiben zu belassen (,,Mein Teil der Arbeit
ist getan“), was blieb von deinem Plan, das Stück einfach ab- und
ganz aus der Hand zu geben (,,Da habt ihr es“) und die Inszenierung völlig
den Kollegen zu überlassen? (,,Nun seht ihr mal zu, was ihr damit anfangen
könnt!“) Warum wolltest du beim Kürzen dabei sein? (,,Da hat
der Autor auch ein Wörtchen mitzureden. Wer weiß, was die dir alles
streichen werden!“) Warum ließest du dir eine kleine, ganz kleine
Nebenrolle verpassen? (,,Ja, wenn sich sonst keiner findet, an mir soll es nicht
liegen.“) Warum hieltest du dich aus Fragen der Regie nicht völlig,
gänzlich, strikt heraus? Warum reichtest du den berüchtigten kleinen
Finger? (,,Wenn es an der einen oder anderen Stelle Unklarheiten gibt, will
ich mich nicht verweigern.“) Schritt für Schritt, immer tiefer hinein
in eine Art Netz, dessen Maschen sich hinter deinem Rücken wieder schlossen,
bis zum Point of no Return. Diese (englische oder amerikanische?) Formulierung
beleuchtete blitzartig und gnadenlos die Situation, vor der du standest. Dieser
Punkt war gegeben, als du dir – nicht eine der Hauptrollen, das denn nun
doch nicht – aber doch eine tragende Rolle antragen, oder besser, aufdrücken,
überstülpen ließest. Es gab Gründe dafür. Wir hatten
zu wenig Schauspieler, die kleinere Rolle konnte besser ein Kollege machen.
Du hättest misstrauisch werden sollen, als man dich beschwichtigen wollte.
(Du seiest nur für die zweite Besetzung der Rolle vorgesehen, bis ein anderer
sich werde finden lassen.) Du hättest noch argwöhnischer werden sollen,
als man die einreden wollte, du habest dir diese Rolle selbst wie auf den eigenen
Leib geschrieben. Du wusstest doch, dass das nicht so war. Aber wir hatten anscheinend
keinen Anderen.
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Im Nachhinein, rückblickend meine ich sagen zu können: Damals, vor
diesem Point, hättest du noch zurückgekonnt. Aber vielleicht ist auch
das falsch. Auf jeden Fall, danach, nach diesem Point, hattest du dich nicht
mehr für den eigenen Text zu verantworten, du warst nun ein Teil der Inszenierung,
unwiderruflich bis zum Ende. Tragödien enden in einer Katastrophe, Komödien
haben ein Happy End. Was wird es werden?
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Ich höre den Chor der Wohlmeinenden. Was denn eigentlich schlimm sei? Man
verstehe meine Aufregung nicht. Ich müsste doch auch die positiven Seiten
sehen. Gewiss müsse man bei der Theaterarbeit mit Laien Abstriche machen,
aber sei es nicht auch wunderschön, mit Schülern kreativ zu arbeiten,
die ganz von sich aus, ganz ohne Notendruck, ihre Freizeit zur Verfügung
stellten, sei es nicht wunderbar, Talente entdecken und fördern zu können.
Beim Gedanken einer völlig auf freiwilliger Mitarbeit von Schülern
und Lehrern beruhenden Gemeinschaftsleistung müsse man doch geradezu feuchte
Augen vor Rührung bekommen.
Die Wohlmeinenden haben Recht. Auch ich bekomme feuchte Augen. Aber die Wohlmeinenden
haben keine Ahnung. Feuchte Augen kann man bei diesem Gemeinschaftsprojekt aus
noch ganz anderen Gründen als denen der Rührung bekommen. Ahnen die
Wohlmeinenden, wieviel harte Arbeit und – mehr noch – wieviel Disziplin
aller Beteiligten so eine Aufführung erfordert? Und Schüler sind Schüler,
sie waren es, sind es und werden es immer sein, ob im Unterricht oder bei freiwilliger
Mitarbeit. Das seien Vorurteile? Nein, das ist kein Vorurteil. Das ist eine
Binsenwahrheit und soll nichts anderes heißen als: Schüler sind so
unterschiedlich wie andere Menschen auch. Manche kommen mit viel Talent und
Feuereifer und bleiben bei der Stange und sind fleißig und lernen ihre
Rollen. Man möchte vor ihnen auf die Knie fallen. Manche kommen mit viel
Talent und anfänglichem Eifer, bleiben aber und sind weniger fleißig
und lernen ihre Rollen nicht. Man möchte sie gerne etwas treten, bevor
man von ihnen auf die Knie fällt. Manche kommen mit etwas Talent und sind
sehr fleißig und haben gute Ergebnisse. Man möchte sich vor ihnen
verneigen. Manche kommen, weil es cool ist und bleiben dabei. Prima! Manche
kommen, weil es cool ist, und wenn sie merken, die Sache bedeutet Arbeit, bleiben
sie einfach weg. Und so weiter, man kann das in allen Varianten durchspielen.
Und Schüler fehlen manchmal, Kollegen auch.
Die Schule (gemeint ist die Institution Schule, nicht das KvG) hat sich daran
gewöhnt. Theaterproben können sich nicht daran gewöhnen, sie scheitern
oder laufen leer, wenn die Rollen nicht so besetzt werden können wie vorgesehen.
Die Schüler fehlen nicht aus böser Absicht. Wenn sie Theaterarbeit nicht
gewohnt sind, wird die Frustrationsschwelle leicht überschritten, und die
Erfolge lassen länger auf sich warten, als sie ertragen können. Andere
verlieren die Motivation, weil sie nicht wissen, dass ihre Leistung noch nicht
ausreicht, sie verstehen nicht, dass sie weiter- und weiterproben sollen.
Das alles sagst du dir, um nicht ärgerlich zu werden. Außerdem weißt
du, die meisten bleiben, trotz aller Enttäuschungen, dabei und machen weiter
und weiter – und du möchtest vor ihnen auf die Knie fallen.
Um aber auf den Stoßseufzer zurückzukommen, in jenem Gespräch
mit dir selbst - eins ist sicher: Du kannst den vielen Selbstanklagen noch eine
weitere hinzufügen, dass nämlich, anscheinend, deine eigene Frustrationsschwelle
auch nicht sehr hoch liegt, so dass du die Kluft zwischen dem, was dir beim
Schreiben vorschwebte, und der Realität der Theaterproben nicht aushalten
konntest, nicht ertragen, wie langsam sich diese Kluft zu schließen begann,
nicht verwinden, dass es Rückschläge gab. Deswegen läufst du
herum und redest von dem jungen, zu Hoffnungen berechtigenden Kollegen mit seinem
Video, das eine Aufführung einer Adaption einer berühmten Parodie
usw. zeigt, und dass du nie wieder mehr als höfliches Interesse zeigen
willst. Und du verbietest dir zum x-ten Male zu wiederholen, was du dir –
wenn dir die Ruhe deines Alters vor und nach der Pensionierung lieb und etwas
wert ist – nie wieder zu sagen vorgenommen hast, jene Worte nämlich:
Das kann man auch selbst schreiben... und manchmal trittst du dabei vor den
Spiegel, schaust dich an und fragst dich, ob dir die Ruhe deines Alters lieb
und wie viel sie dir wert ist, du Mann und Komödiant.
Alfred Vollmer
Quelle: Programmheft zur Aufführung