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| Vorwort des Schulleiters, Paul Thelosen, zum Programmheft |
Idee und Entstehung
Kennen Sie Vlad Tepes?
Wenn nicht, müssen Sie sich nicht grämen. lm Gegenteil, Sie sollten
froh sein, ihm nie begegnet zu sein - weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem
Tode. Denn den Fürst, den man so nannte (er war Woiwode der Walachei, einer
Gegend im heutigen Rumänien) - dieser Vlad Tepes also hatte die wenig zarte
Angewohnheit, seine Feinde, insofern er ihrer habhaft wurde, auf spitze Pfähle
setzen zu lassen und den Rest der Hinrichtung, die man besser Folter nennen
sollte, der langsam, aber sicher wirkenden Schwerkraft zu überlassen.
Seine Feinde - das waren neben dem immer aufmüpfigen Adel im eigenen Lande
vor allem die osmanischen Türken, die er wegen mangelnder Ressourcen seiner
vergleichsweise kleinen Walachei durch den grausamen Terror seiner Kriegsführung
zu beeindrucken versuchte. Das eigene Land, d. h. Rumänien, feierte Vlad
später als Nationalhelden und tut das auch heute noch; das verdankt Vlad
seinem unerschrockenen Widerstand gegen die übermächtigen Osmanen
und der Unerbittlichkeit, mit der er im eigenen, vom Chaos bedrohten Land für
„Ruhe und Ordnung“ sorgte; auch geringfügige Vergehen wurden
in seiner Walachei mit der Tortur des Pfählens bestraft. Dem übrigen
Europa blieben aber nicht Vlads Tapferkeit und seine politischen Leistungen
in Erinnerung, sondern seine exzessive Grausamkeit. Die ungehemmte Leidenschaft,
mit der er sich seiner Lieblingsfolter hingab, trug ihm denn auch seinen Beinamen
ein. Tepes, d. i. Pfähler, nannten ihn zunächst die Rumänen und
entsprechend die Türken, als die unmittelbar Betroffenen.
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| Vlad Tepes |
Das weitere Europa kannte ihn ebenfalls als den Mann, der seine Opfer pfählen
ließ; denn die vielen Gruselgeschichten, die schon bald nach seinem Tode
über ihn verbreitet wurden, hoben immer wieder seine besondere, abscheuliche
Art, sich seiner Feinde zu entledigen, hervor. Aber der Beiname, unter dem er
in Mittel- und Westeuropa bekannt wurde, ist ein anderer; berühmt oder, richtiger,
berüchtigt wurde er dort unter dem Namen Dracul oder Dracula. Diese Bezeichnung
dient als Beiname für eine ganze Reihe von Mitgliedern der Familie, der Vlad
entstammt. Sie leitet sich von dem Drachenorden ab, in den Sigismund, damals Kaiser
des Heiligen Römischen Reiches und König von Ungarn und Polen, den Vater
des Pfählers aufgenommen hatte. (Dracul ist das rumänische Wort für
Drache.) Diesen Namen kennen höchstwahrscheinlich auch Sie, liebe Leserin,
lieber Leser. Wie die meisten werden auch Sie mit diesem Namen die Vorstellung
eines blutgierigen Vampirs aus einem fernen, sagenhaften Land (Transsylvanien)
irgendwo in Osteuropa verbinden und vielleicht sind auch Sie, wie die meisten,
erstaunt, dass sich hinter dieser Spukgestalt eine historische Person verbirgt,
die für Dracula Modell gestanden hat. Vlad Tepes lebte von 1431-1476.
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| Titelblatt der geschicht dracole wayde, einer Zusammenfassung
der (Un-)taten des Vlad Tepes, erschienen 1488 in Nürnberg |
Während ich bis jetzt hatte hoffen können, durch langsames Andeuten
und allmähliches Enthüllen der Gräuel und Gräuelgeschichten,
die mit Vlad Tepes bzw. Dracula verknüpft sind, Ihre Fantasie gefangen
zu nehmen, muss ich nun, durch die Preisgabe der Lebensdaten des Pfählers,
befürchten, den gegenteiligen Effekt zu bewirken. „So lang ist das
her!“, höre ich Sie sagen, „Tempi Passati!“ und ich sehe
vor meinem inneren Auge, wie Sie sich in dem wohligen Gefühl beruhigt zurücklehnen,
mit Vlad, Dracul oder Dracula oder wie auch immer nichts, aber auch gar nichts
zu tun zu haben und bezüglich allem, aber auch allem, was mit ihm zu tun
hat, die Gnade der späten Geburt zu genießen. Ich kann die zeitliche
Distanz nicht leugnen, die Sie von ihm trennt. Ich wüsste auf Anhieb auch
nicht zu sagen, was Sie mit einem osmanischen Türken oder mit einem Adligen
oder walachischen Gesetzesbrecher so eng verbände, dass Sie sich Vlads
/Draculas Zorn hatten zuziehen können. Und schließlich ist er ja
auch lange tot, tot und begraben. - Aber hier liegt der Hase im Pfeffer. Begraben
schon! Aber tot?
Es waren Schriftsteller, die vornehmlich in der Tradition der Schwarzen Romantik
und der angelsächsischen Gothic Novel standen, die Dracula unsterblich
machten. Es handelt sich dabei nicht um jene Unsterblichkeit, zu der Literatur
ihren größten Figuren für gewöhnlich verhilft, so wie z.
B. Goethe den Namen des Dr. Faustus weit über den Tod seines Trägers
hinaus berühmt gemacht hat. Es handelt sich auch nicht um die religiöse
Vorstellung einer Auferstehung nach dem Tode, die wir Christen unseren Nächsten
und - nicht zuletzt - auch uns selbst so sehnlich wünschen. Es handelt
sich vielmehr um jene makabre und abscheuliche, geradezu lästerliche Perversion
der Idee der Auferstehung, die ihren volkstümlichen Ausdruck in dem Aberglauben
von den Vampiren fand, jenen Wiedergängern, die zwar gestorben sind, die
aber als ruhelose Leichname ihren Gräbern wieder entsteigen und ins diesseitig-irdische
Leben zurückkehren, weil sie entweder mit den Lebenden noch eine Rechnung
abzumachen haben oder weil ihnen wegen einer ungeheuren Schuld die ewige Ruhe
solange nicht vergönnt ist, bis diese Schuld gesühnt ist. Diese abergläubische
Vorstellung ist uralt und die Angst der Menschen vor diesen Wesen so stark,
dass sie sie mit allen möglichen dämonisch-bösen Zügen ausgestattet
haben, zu denen nicht zuletzt der Hass der Vampire auf die Lebenden und ihre
Gier nach menschlichem Blut gehört, das sie ihren Opfern aussaugen, um
damit ihrer eigenen traurig-schrecklichen Existenz im Zwischenreich zwischen
Tod und Leben Nahrung und Kraft zu geben.
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| Stokers Roman. Quelle: Die Presse.com |
Die Vampire können sich in Tiere verwandeln, in Wölfe und blutsaugende
Fledermäuse, was ein bildlicher Ausdruck ihrer Mordgier und ihres unheimlichen
Wesens ist. Sie wurden schließlich zu Symbolen des Satanisch-Bösen
schlechthin; deswegen können sie auch nicht mit gewöhnlichen Waffen,
sondern nur mit magischen Praktiken besiegt werden, in denen Knoblauch und zugespitzte
Holzpfähle, die ihnen ins Herz zu treiben sind, eine Rolle spielen. Auch
die Symbole der christlichen Religion, geweihte Kreuze z. B., haben die Kraft,
diese Verkörperungen des Teuflischen zu bannen. Ebenso kann Sonnenlicht helfen,
den Vampir, der als Geschöpf des Reichs den Toten in der Nacht zu Hause ist,
zu verletzen oder zu vernichten. Eine letzte Steigerung des Grauens vor diesen
Ausgeburten der abergläubischen Fantasie stellt die Befürchtung dar,
der Vampirismus könne endemisch sein, d. h. der Biss der Vampire könne
infektiös wie eine ansteckende Krankheit wirken und den Gebissenen gleichfalls
zum blutgierig mordenden Wiedergänger machen.
Alle diese abscheulichen, bösartigen, dämonischen und satanischen Züge
des Vampirs wurden im 19. Jahrhundert der Gestalt Draculas von Verfassern von
Schauerromanen im wahrsten Sinne des Wortes angedichtet. Während die Geschichten
über den Pfähler aus der Walachei schon die moralische Fassungskraft
der Leser arg strapazierten, war seine Stilisierung zum Vampir aus Transsylvanien,
einer Gegend übrigens, die in der Nachbarschaft der Walachei liegt, nur allzu
geeignet, nun auch die metaphysischen Vorstellungen des Publikums durcheinander
zu bringen. Denn eine Verwischung der Grenzen zwischen Tod und Leben erschüttert
unsere Vorstellung von den letzten Dingen und stellt für jedes geordnete
Weltbild eine Zumutung dar. Dieser Effekt war durchaus im Sinne der Verfasser
von Vampirerzählungen des 19. Jahrhunderts, potenzierte er doch das Grauen,
das der Leser vor Dracula verspürt.
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| Bram Stoker. Quelle: wikimedia |
Eine der hervorragendsten Leistungen auf dem Gebiet der Literatur über Vampire
ist sicherlich der Roman
Dracula der irischen Autors Bram Stoker. Er
erschien im Jahre 1897 in London und bündelt eine große Anzahl der
Motive, die überhaupt mit Dracula und dem Vampirismus in Verbindung stehen.
Ganz ohne Zweifel ist Stokers Roman die wirkungsvollste aller Publikationen
über Vampire. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen literarischen Versionen,
die der Roman in der Folgezeit erfahren hat, sondern viel mehr noch der überwältigende
Einfluss, den das Werk des irischen Autors auf das neue Medium des 20. Jahrhunderts,
den Film, ausgeübt hat. Die überwiegende Mehrheit der Leute, die mit
dem Stoff- und Motivkomplex des Vampirs etwas anzufangen wissen oder für
die der Name Dracula nicht nur ein Wort ohne Geschichte ist, kennt die Gestalt
und die
story des gräflichen Vampirs aus Transsylvanien nicht
aus der Literatur, sondern aus den zahlreichen Vampir-Filmen, die alle den Einfluss
des Dracula-Romans auf sie nicht verleugnen können. Einige dieser filmischen
Dracula-Versionen sind ausgezeichnet, in der Mehrzahl sind es ziemlich wert-
und einfallslose Reißer, die Horror-Effekt auf Horror-Effekt häufen
sowie durch eine immer drastischere Darstellung des Schreckens und technisch
immer ausgefeiltere Spezialeffekte die Gunst des Massenpublikums suchen. Aber
gerade die Quantität auch der weniger bedeutenden Vampirfilme zeigt, wie
sehr die populäre Kultur der Gegenwart von der Gestalt des gräflichen
Vampirs Dracula noch fasziniert ist.
Ich gestehe, ich habe bei der Skizzierung der Entwicklungen, von denen die Rede
war, im Eifer des Gefechts sozusagen, Sie, die Leserinnen und die Leser dieses
Programmheftes, ein wenig vergessen. Und jetzt sehe ich, wie sich auf den Stirnen
der wenigen, die mir bis hierhin geduldig gefolgt sind, eine leichte Falte des
Unmuts zu bilden beginnt. Mit Recht werde ich gefragt, was denn meine Ausführungen
eigentlich mit Nosferatu zu tun hatten; bisher sei dieser Name, dem das Stück,
das im Programmheft vorgestellt werde, immerhin seinen Titel verdanke, nicht ein
einziges Mal gefallen. Ich bin froh, dass ich meiner Auskunftspflicht schnell
nachkommen kann. Die Antwort auf die Frage ist denkbar einfach:
Nosferatu ist Dracula. Der Stummfilm
Nosferatu, eine Symphonie des Grauens,
des Regisseurs Murnau aus dem Jahre 1922, ist die erste deutsche Filmversion
des Romans von Stoker. Sie folgt dem literarischen Vorbild nicht in jeder Hinsicht,
aber doch in den wichtigsten Zügen der Handlung. Sie gilt als Meisterwerk
des deutschen expressionistischen Films und als filmisches Vorbild für
die meisten der späteren Dracula-Filme. Die deutsche Filmgesellschaft hatte
Schwierigkeiten mit den Erben der Urheberrechte an dem Roman Dracula. Es mag
daran gelegen haben, dass die deutsche Gesellschaft auf den Filmtitel Dracula
verzichtete und auf den Namen Nosferatu zurückgriff, der in Stokers Roman
nur einmal kurz erwähnt wird. Eine schottische Autorin, die vor Stoker
Gelegenheit hatte, in Transsylvanien Sitten und Volksmythen zu studieren, war
auf diesen Namen als Bezeichnung für einen Vampir gestoßen. Mir gefällt
der Name Nosferatu noch besser als Dracula; er ist noch reicher an Vokalen und
wirkt noch fremdländischer und geheimnisvoller; er ist offener und lässt
mehr Assoziationen zu als Dracula, weil er einen nicht so sehr auf die Version
fest legt, die Stoker dem Vampirstoff gab. Damit - und das scheint mir der wichtigste
Grund meiner Vorliebe für diesen Namen zu sein - lässt er mehr Spielraum
für Interpretationen des Vampirstoffes, die der Stokerschen Auffassung
kritisch gegenüberstehen.
Alfred Vollmer