Man muß nicht Goethe oder Schiller heißen

Literaturkurse in der Jahrgangsstufe 13

Seit mit der Reform der gymnasialen Oberstufe in Nordrhein-Westfalen der Fächerkanon des sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfeldes um das Unterrichtsangebot „Literaturkurse“ erweitert wurde, finden sich alljährlich Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 13 des KvG zusammen, um endlich einmal nicht vorrangig den analytischen Umgang mit Literatur - wie im Deutschunterricht - zu pflegen, sondern um die Ergebnisse der Auseinandersetzungen mit Texten in eigenen Produktionen zu dokumentieren.
Die Ergebnisse der Arbeit in den Literaturkursen der letzten Jahre können sich sehen lassen: Die Palette reicht von dem äußerst arbeits- und zeitintensiven Vorhaben „Theaterproduktion“ (Dürrenmatt, Frisch, ja sogar Goethe wurden mit viel Erfolg aufgeführt) über Text- und Fotoprojekte, die sich mit dem räumlichen Umfeld Münster/Hiltrup beschäftigten („Denk ich an Hiltrup“, „Der Send“, „Nullzwofünfeins“ usf.) bis hin zu literarischen und belletristischen Schreibprojekten.
Eben ein solches Schreibprojekt war Inhalt der Literaturkurse im Schuljahr 95/96. Während der jahrelangen und oft mühsamen Anstrengungen seitens der Schüler und der Deutschlehrer, vorhandene - und häufig zeitlich weiter zurückliegende - Texte zu verstehen und zu interpretieren, sollten hier eigene Schreibprodukte Inhalt und Ziel der Kurse sein. Dabei wurden unterschiedliche Techniken und Verfahren der Schreibanimation und der Textproduktion bekannt gemacht, erprobt und realisiert.
Elisabeth Schulte Huxel in: Kardinal-von-Galen-Schule 1949-1996, Münster 1996

Der Brief

Wie sollte er anfangen? Wie sollte er enden?
Er saß hier in seinem karg ausgestatteten Zimmer; ein Schrank, ein Bett, eine Spüle, ein Backofen mit zwei Kochplatten, ein Stuhl - und dieser Tisch. Unter ein Tischbein hatte er vor einigen Tagen seinen Hausschuh gesteckt, damit der Tisch nicht bei jeder kleinen Berührung wackelte. Bisher hatte ihn dies nicht weiter gestört, als Ablage war auch ein wackeliger Tisch gerade gut genug. Aber jetzt....
Ein Schrank, ein Bett, eine Spüle, ein Backofen, ein Stuhl und ein Tisch. Immer wieder sah er das Gleiche:
Schrank, Bett, Spüle, Backofen, Stuhl, Tisch. Obwohl er den Stuhl nur unter sich spürte, sah er ihn doch genau so wie die ganzen letzten Jahre: vier Stuhlbeine, ein Sitzbrett, eine Lehne - unverziert, nichts Besonderes, nur von praktischem Wert. Wie dieser Tisch auch. Und wie der Schrank, das Bett - er konnte es nicht mehr sehen. Nur praktisch. Nichts für das Auge.

Sommer

nachts (alp-) traum
Glück auf, Moderne Zeiten!
Seit Shakespeare ist
die Zeit fortgeschritten.
Die Menschheit schreitet fort -
mit gesteigerter
bildungsbedingter
Entwicklungstendenz
zur intellektuell
souverän gestylten
(computertechnisch
effizienter rationell
vollkommen genutzten)
up-to-date
Anonymität.
Nina Hestermann

Winter

- starre
grinst schneidet
frostig
Gefühle tot
geschwiegen
kalte Gesichter
Grimasse grinst gefroren
glatt
eisblank
Lächeln prallt ab
scheppert lachend
schallt vorbei
Steife Umarmung
kaltet höflich
schaudert zurück
fröstelt einsam
Gesichtermeer
endlos
Sehnsucht verhallt
erstickt schneebegraben
in Eisesstille
Todesfrost
lebenslang
Nina Hestermann
Aber trotzdem immer wieder: Schrank, Bett, Spüle, Backofen, Tisch. Tisch. Tisch. Tisch. Tisch.
Vor diesem saß er. Darauf lag ein Blatt Papier, seit zwei Tagen.
Und seit zwei Tagen ist es leer, ist es weiß. Unbefleckt, unbeschadet, noch kein falsches Wort ist daraufgeschrieben.
Seit zwei Tagen sitzt er an diesem Tisch, vor diesem Blatt Papier und soll sich erklären. Soll? Nein, will sich erklären. Er kann nicht länger hier sein. Schrank, Bett, Spüle, Backofen, Stuhl, Tisch - und draußen eine Stadt.
Eine Stadt, so groß, so dunkel, so grau, so voll, so allein.
So mächtig, daß sie ihn klein gemacht hat. So lebendig, daß sie ihn lahm gemacht hat. So laut, daß sie ihn stumm gemacht hat.
So gesellig, daß sie ihn einsam gemacht hat. Einsam in seinen vier Wänden, vor seinem kleinen Fenster, zwischen dem Schrank, dem Bett, der - nein, nicht schon wieder. Er kennt es in- und auswendig. Wie soll er es schreiben? Verdammt, wie soll er sich ausdrücken? Warum kann er das nicht? Warum findet er keine Worte? Warum braucht er dafür einen Tag, zwei Tage, drei Tage, am Ende sogar zehn, zwölf, zwanzig? Warum, verdammt noch mal, kann er sich nicht ausdrücken? Er springt auf, der Stuhl kippt um, der Tisch wackelt nicht. Er läuft die Wände seines Zimmers ab, immer links herum. Erst kommt der Schrank, dann das Bett, Ecke, links herum, Spüle, Backofen, Tür (Tür! Flur, Endlosigkeit, Dunkelheit), Ecke, links herum, Wand, Stuhl mit Tisch, Tisch Tisch, Tisch, Ecke, links herum, Fenster (Fenster! Stadt, Dunkelheit), Wand, Ecke, links herum, Schrank, und immer weiter.
Ein Schritt, zwei Schritte, drei, vier, fünf, sechs Schritte und Ecke, und eins und zwei und drei und vier, fünf Schritte, sechs, sieben. Dann wieder sechs, dann wieder sieben, sechs, sieben.
Immer wieder: sechs, sieben.
Sechs, sieben. Was soll er tun? Sechs, was soll er schreiben, sieben, was soll er schreiben? Er muß hier weg. Sechs, sieben.
Sechs mal sieben. Er weiß, er solle froh sein, noch ein so großes Zimmer für den Preis bekommen zu haben. Sechs mal sieben! Aber Schrank, Bett, sechs mal sieben, drei mal vierzehn, Stuhl, Tisch. Stuhl und Tisch, Blatt Papier. Ein weißes Blatt Papier, seit zwei Tagen weiß, auch die Wände sind weiß. Weiße Wände, sechs mal sieben.
Was soll er schreiben? Er kann nicht hier sein.
Er rennt, er rennt die weißen Wände ab, er soll seinen Eltern, der Welt, dem lieben Gott - wem oder was sonst noch? - er soll dankbar sein, froh sein. Er rennt um die Ecken, er rennt im Kreis, nicht mehr sechs mal sieben um die Ecke, nur noch Kreis, Kreis, Kreis.
Er rennt, rennt, dreht sich: Kreis, Kreis, Kreis!
Er stolpert über den umgekippten Stuhl, er stürzt auf den Boden.
Was soll er schreiben?
Schrank, Bett, Spüle, Backofen, Stuhl, Tisch. Die Antwort.
Sechs Worte auf dem Papier.
Kathy Voßwinkel