Heimatkunde am Gymnasium?
Ein Buch über Hiltrup im Literaturunterricht
Noch in den sechziger und den beginnenden siebziger Jahren galt der Terminus „Heimat“ in vielen Kreisen als verpönt, hatte einen biederen, provinziellen, kleinkarierten Nachgeschmack, und ein Verschwinden aus dem deutschen Sprachschatz der Gegenwart schien in einer Zeit wachsender Mobilität kurz bevorzustehen.
Dennoch ist seit einigen Jahren der von vielen bereits totgesagte Heimatbegriff
wieder in aller Munde. Zu einer Renaissance, zu einem phönixgleichen Aufstieg
trugen nicht zuletzt auch die Medien positiv bei: Heimatromane wurden zu mehrteiligen
Fernsehfilmen ausgewalzt, die Geschichten aus der Heimat entwickelten sich zu
einem akzentuierten Kontrapunkt zu den bestehenden flachen amerikanischen Dauerserien.
Auch andere Bereiche wurden von einer Bewegung erfaßt, die eine allmähliche
Hinwendung zur Heimat und deren Geschichte erahnen läßt.
Von dieser Entwicklung konnte zum Beispiel die Museumslandschaft profitieren.
Viele Orts- und Stadtmuseen, die sich mit dem lokalen und historischen Umfeld
befassen, oft klein und bescheiden, entstanden in den vergangenen Jahren neu und
sind als ein deutliches Zeichen der Wiederentdeckung der Heimat aufzufassen. Auch
das seit 1984 bestehende Hiltruper Heimatmuseum in der Wentrup'schen Dampfmühle
entstand im Rahmen einer solchen Hinwendung zum lokalen Kontext. Dabei ist entscheidend,
daß diese Bewegung nicht von oben kommt, administrativ gesteuert wird, sondern
von den Bürgern selbst kommt, die ihr Umfeld als Identifikationsraum entdecken
und Fragen nach dem Woher und Wohin aufarbeiten wollen.
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| Westfälische Nachrichten 21. 03. 1986 |
Man kann schon fast von einer Welle sprechen, die ungebrochen auf den Bereich
der Lokal- und Regionalgeschichte und -geographie zuströmt. Bibliotheken
und Archive werden durchgeforstet, Bibliographien gewälzt, Kirchenbücher
geblättert und vergilbte Fotos aus den Schubladen und Familienalben gekramt,
um Ortsgeschichte zu entdecken, aufzuarbeiten und zu präsentieren. Diese
Aufarbeitung, vor einigen Jahren noch beliebte Nebenbeschäftigung von angegrauten
Dorfschullehrern, wird mittlerweile von breiten Bevölkerungsschichten wahrgenommen:
Neben Studenten, die in den Fächern Geschichte und Geographie in zunehmendem
Maße ihre Pro- und Hauptseminararbeiten über lokale Themen anfertigen,
treten auch immer mehr interessierte „Laien“, die etwa ihre unbekannte
Familiengeschichte erforschen wollen oder aber den durch die kommunale Neugliederung
eingemeindeten und fast schon vergessenen Orts- und Stadtteil in seiner individuellen
historischen Entwicklung und Ausprägung kennenlernen möchten.
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Vorderer Umschlagkarton des Buches
Entwurf: Dirk Brameier, Frank Eilers |
Deutlich wird in allen diesen Strömungen, Bewegungen, Tendenzen ein Grundbedürfnis
des Menschen: nämlich die Suche nach einem Raum, einer Umgebung, in der
er sich wohl fühlen kann, mit der er sich identifizieren kann und die ihm
ein „Zuhausegefühl“ vermittelt, schlicht das Bedürfnis
nach Heimat. Bei der Suche nach diesen Werten galten die Heimatvereine zwar
immer als Wegbereiter, dennoch haben sich unabhängig, oft auch parallel,
neue Gruppierungen gebildet, die im ökologischen und kulturellen Bereich
kleinraumbezogen tätig werden. Der schulische Bereich steht, wenn man von
dieser Entwicklung ausgeht, bisher im Abseits. Diese Abseitsstellung gilt in
besonderem Maße für das Gymnasium. Die für diesen Bereich vornehmlich
in Frage kommenden Unterrichtsfächer wie Geschichte, Erdkunde und Kunst
sind zu stark in ihre Raster gepreßt, um zu intensiven Auseinandersetzungen
mit dem lokalen Umfeld zu gelangen. Die Richtlinien lassen zwar auf der einen
Seite durchaus dem Fachlehrer Möglichkeiten, bieten jedoch auf der anderen
Seite zu wenig Hilfe an. Die Schulbuchverlage stellen so gut wie keine didaktischen
Materialien zur Verfügung, um den Heimatraum aufzuarbeiten. Lediglich größere
Städte wie etwa Münster können auf umfangreichere Hilfen vor
allem im Fach Geschichte verweisen. So erschöpfen sich oftmals die heimatbezogenen
Aktivitäten auf zusätzliche Jahresarbeiten im Fach Geschichte, auf
Kartierungsübungen in Erdkunde und auf Architekturzeichnungen in Kunst,
kurzum auf Unterrichtsreihen, die punktuell angelegt sind und häufig keine
verbindenden Züge erkennbar werden lassen.
Als ein Versuch, den üblichen Rahmen des Unterrichts zu sprengen und den
Heimatraum interdisziplinär erfahrbar zu machen, ist ein Projekt aufzufassen,
das im Schuljahr 1985/86 in der Jahrgangsstufe 13 im Rahmen des Literaturunterrichts
durchgeführt wurde. Unter Berücksichtigung der curricularen Bedingungen,
die zwar einerseits gute Möglichkeiten für eine Auseinandersetzung
mit dem geographischen Heimatraum lassen, andererseits diesen jedoch auch nicht
ausdrücklich in den angeführten Bereichen explizieren, entwickelte
sich ein Projekt, das kognitiv das Ziel hatte, Hiltrup als Lebens- und Erfahrungsraum
für die Schüler transparent zu machen. Das instrumentale Lernziel
bestand darin, ein Buch zu erstellen und es herauszugeben.
Die Arbeit an diesem Projekt konzentrierte sich auf vier Bereiche: Im ersten
beschäftigten sich die Schüler rezeptiv mit der Literatur über
den Stadtteil Hiltrup, und sie konnten Themenschwerpunkte nach ihrer Wahl herausfiltern.
Der zweite Bereich bestand aus einer produktiv-visuellen Tätigkeit. Die
Anfertigung von Fotos, Zeichnungen und Skizzen, die in die Veröffentlichung
eingebaut werden sollten, war ein wichtiger Arbeitsbereich. Im produktiv-textlichen
Teil des Projekts, dem dritten Bereich, hatten die Schüler die Aufgabe,
eigene literarische Texte zu erstellen, die ihr subjektives Erleben von Hiltrup
widerspiegeln sollten. Der vierte Bereich schließlich wurde von der redaktionellen
und verlegerischen Arbeit eingenommen. Während die ersten drei Bereiche
zeitlich parallel abliefen, schloß sich der vierte Bereich an die übrigen
an. Den Anfang der Arbeit bildete die Materialbeschaffung. Da der Literaturkurs
am Nachmittag stattfand, konnten einige Unterrichtsveranstaltungen in Bibliotheken
der Westf. Wilhelms-Universität in Münster durchgeführt werden.
Aus der Sammlung und Sichtung der Literatur ergaben sich zwangsläufig für
die Schüler Arbeitsbereiche, die den jeweiligen individuellen Interessen
und Fähigkeiten angepaßt werden konnten. Der interdisziplinäre
Charakter des Literaturprojekts (berücksichtigt wurden die Fachdisziplinen
Deutsch, Geschichte, Erdkunde und Kunst) begünstigte eine Themenfindung durch
die Kursteilnehmer. Petra Hartweg beispielsweise wählte einen Arbeitsbereich,
in dem Hiltrups Alte Clemenskirche kunsthistorisch aufgearbeitet werden konnte,
Berthold Engels setzte sich mit einem geographischen Bereich, einer Interpretation
der Grundkarte Blatt Hiltrup auseinander, Margret Winkelkötter untersuchte
einen wirtschaftsgeschichtlichen Komplex, indem sie einen kurzen historischen
Abriß des Glasuritwerkes erstellte. Zu den Texten kam Illustrationsmaterial
hinzu, das in der Regel die jeweiligen Bearbeiter der Sachtexte beisteuerten.
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| Westfälische Nachrichten 11. 04. 1986 |
Neben den sachbezogenen Texten, die sich mit ortsgeschichtlichen Phänomenen
von Hiltrup auseinandersetzen (Kirchen, Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte,
Verkehrswege, Landwirtschaft, Industrie, Heimatmuseum) sollten die von den Kursteilnehmern
so betitelten Impressionstexte einen zweiten Schwerpunkt der Publikation ausmachen.
Nach erheblichen Überwindungsschwierigkeiten kamen Texte zusammen, die
eine sehr subjektiv gefärbte Beschäftigung der Schüler mit ihrem
Heimatraum verraten. Daß dabei nicht nur verklärende und beschönigende
Produkte entstanden, versteht sich von allein. Herausgehoben werden sollen hier
nur stellvertretend die Texte von Raimund Museler („Der Nachmittag am
Schreibtisch“) über Kindheitserlebnisse in Hiltrup-West, von Frank
Eilers („Bei uns steht die Kirche noch im Dorf“), der als Angelmodder
ein distanziertes und kritisches Verhältnis zu Hiltrup entwickelt und der
fiktionale Text von Stephan Schunicht („Mint ist Mode“), der ironisch
das Hiltruper Schickeria-Milieu ausleuchtet. Zu der starken Beanspruchung der
Schüler im inhaltlichen Bereich (Erstellung der Texte, Anfertigung von Zeichnungen)
kamen die redaktionellen und verlegerischen Tätigkeiten hin zu: Texte und
Materialien mußten zu einem Buch zusammengestellt werden, Druckereien mußten
angeschrieben und um Kostenvoranschläge gebeten werden, ein Subskriptionsverkauf
und seine Durchführung mußte zur finanziellen Absicherung initiiert
werden. Öffentlichkeitsarbeit, redaktionelle Betreuung, Drucküberwachung
und Verkauf sind weitere Stichworte, die die Palette der Arbeitsbereiche kennzeichnen.
Nicht angeführt ist hierbei der Faktor Zeit, der sich zu einem ernsthaften
Problem entwickelte.
Daß das Projekt in seiner Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit dennoch ein Erfolg wurde, liegt nicht zuguterletzt auch an dem Engagement der elf Kursteilnehmer, die trotz der geringen Teilnehmerzahl und der großen zeitlichen Belastung durch die Abiturvorbereitung das Buch „Denk ich an Hiltrup“ herausgeben konnten. Die Oberprimaner Jochen Bartling, Dirk Brameier, Berthold Engels, Frank Eilers, Petra Hartweg, Rudolf Merker, Raimund Museler, Oliver Preuss, Gunnar Rönnberg, Stephan Schunicht und Margret Winkelkötter haben einerseits erfahren, wie schwer und arbeitsreich die Produktion eines Buches sein kann, andererseits haben sie eine Sensibilität für ihren Lebensraum Hiltrup erhalten und versucht, diese zu formulieren. Neben alledem steht vielleicht auch noch das befriedigende Gefühl der Schüler, ein Buch nicht nur geschrieben, sondern auch gestaltet, verlegt, finanziert und verkauft zu haben.
Wenn auch die Arbeit an diesem Buchprojekt über Hiltrup immer wieder von Rückschlägen und Tendenzen zur Aufgabe gekennzeichnet war, so ist es doch gelungen, den Schülern Hiltrup als Identifikationsraum näher zu bringen. Für sie ist Hiltrup nicht bloß der Name eines Stadtteils von Münster, für sie ist Hiltrup als Begriff füllbar und fühlbar geworden. Sie können konkrete Vorstellungen entwickeln, wenn jemand sagt: „Denk ich an Hiltrup . . .“
Werner Bockholt in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1986. Festschrift zum 40jährigen Jubiläum, Münster 1986