Verba latina ubique sunt

oder: Unser tägliches Latein

„Latein - eine tote Sprache! Was kann man damit heute noch anfangen?“ So habe ich es schon oft - und nicht nur aus Schülermund - gehört.
Latein - eine tote Sprache? Man braucht nicht allein an die romanischen Sprachen, besonders an das Italienische, Französische und Spanische, zu denken, sondern sich nur einmal unsere eigene Sprache näher anzusehen, um vom Gegenteil überzeugt zu werden: Latein lebt! Man braucht nur die Augen aufzumachen und sich umzuschauen, die Werbung zu verfolgen oder in der Zeitung zu lesen: Allenthalben begegnet uns in unserem Alltag Latein.
Es soll hier nun keine umfassende Rechtfertigung für den heutigen Stellenwert des Lateinischen unternommen, sondern vielmehr ein Bereich in den Blick genommen werden, der vielen in seiner Größenordnung sicher so nicht bewußt ist: Lateinisch in der deutschen Sprache.
Tagtäglich gebrauchen wir unzählige Wörter, Begriffe und Floskeln, die lateinischen Ursprungs sind. Nicht weniger als rund 75% aller Lehn- und Fremdwörter, die aus anderen Sprachen in unser Alltagsdeutsch eingegangen sind, stammen aus dem Lateinischen, sei es direkt, sei es auf dem Umweg über eine Nachbarsprache! Sichtet man den Gesamtbestand mit Hilfe des Duden-Fremdwörterbuches, so finden sich im Deutschen rund 25000 (fünfundzwanzigtausend!) Wörter lateinischer, d. h. auch mittel-, vulgär- oder neulateinischer Herkunft. Selbst wenn man aussondert, was allzu eng begrenzten fachspezifischen Charakter trägt oder inzwischen als veraltet angesehen werden muß, bleiben immer noch rund 14000 Wörter, die unser tägliches Latein bilden.
Darunter finden sich bei weitem nicht nur Wörter, denen man ihren lateinischen Ursprung auf den ersten Blick ansieht, wie z. B. Assimilation, Insuffizienz, Transplantation oder Utilitarismus, sondern in sehr großem Umfang Wörter, die genuin muttersprachlich wirken oder deren lateinische Herkunft man nicht im entferntesten vermutet, wie z. B. Ampel, Dusche, Eimer, Katze, Kirsche, Lampe, Mantel, Mode, Skat, Spaß, Trichter-, Watte etc., um nur eine kleine, aber verblüffende Auswahl zu nennen. Mit Fug und Recht konnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung feststellen: „Wer Deutsch spricht, spricht zum guten Teil Lateinisch“ (FAZ, 15. 10. 1992).
Wie sehr „alltäglich“ solches Latein in unserem Sprachgebrauch ist, kann der Mustersatz „Kanzler Kohl regiert die Republik“ zeigen: Bis auf den Artikel, den es bekanntermaßen im Lateinischen nicht gibt, stammen alle Wörter dieses deutschen Satzes aus der Sprache der Römer: Kanzler von cancellarius, dem mittellateinischen Titel des Amtsvorstehers in der Kanzlei, Kohl von caulis, das sowohl die Gemüsesorte bezeichnen als auch Eigenname sein kann, regieren von regere =lenken, leiten, und schließlich Republik von der alten römischen res publica. Vier lateinische Wurzeln in einem alltäglichen 5-Wörter-Satz: Die aktuelle Präsenz des Lateinischen im Deutschen kann kaum besser augenfällig werden.
Um nun beispielhaft einen genaueren Eindruck zu erhalten, wie viele unserer täglich verwendeten Wörter aus dem Lateinischen stammen, soll im folgenden ein einzelner umgrenzter Bereich unter die „lateinische Lupe“ genommen werden. Welcher Bereich wäre da angemessener und geeigneter als der, mit dem Schüler, Eltern und Lehrer auf je verschiedene Weise tagtäglich zu tun haben: der Bereich „Schule und Lernen“? Dabei sind zur besseren Veranschaulichung alle Wörter, die einen lateinischen Ursprung haben, wie bereits in den obigen Beispielen kursiv gedruckt.
Es beginnt schon mit dem Wort Schule selbst (früher sagte man umgangssprachlich auch Penne) und geht weiter mit der Ausstattung der Klasse: Da stehen Tische, ein Pult, an der Wand die Tafel, für die man Kreide braucht; im Informatik-Raum gibt es Computer, ausgestattet mit Monitor und Tastatur, teilweise sogar mit Scanner, und ausgerüstet mit den verschiedensten Dateien (u. a. Tabellenkalkulation). Die Schüler, die z. T. mit dem Omnibus zur Schule kommen, bringen in ihrer Mappe nicht nur Bücher, sondern auch Zettel, Etui, Lineal, Zirkel, Radierer, mit Tinte gefüllte Patronen und natürlich Proviant (für die Pause), darüber hinaus - so ist zu hoffen - auch Interesse, Motivation und Konzentration mit in den Unterricht. Alle, nicht nur der Direktor, sondern auch die Studienräte und Referendare, freuen sich, wenn die Schüler pünktlich und nicht auf die letzte Minute in der Schule ankommen.
Blicken wir nun auf die einzelnen Fächer, die auf dem Stundenplan stehen:
In den sprachlichen Fächern - natürlich - wimmelt es nur so von lateinischen Wörtern. Ganz gleich, ob von den Wortarten (Substantiv, Verb, Adjektiv, Adverb, Präposition, Konjunktion), den Satzfunktionen (Subjekt, Prädikat, Objekt, Attribut, Adverbiale, Prädikativum), den Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Ablativ), den Tempora (Präsens, Futur, Imperfekt bzw. Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt), dem Numerus (Singular, Plural), von Aktiv oder Passiv, von Deklination oder Konjugation, vom Artikel, von Literatur, sei es nun Dichtung oder Prosa, und von verschiedenen Autoren und literarischen Genera (Roman, Novelle, Fabel, Satire, Brief / Korrespondenz, Memoiren, Science Fiction) die Rede ist: Man kommt am Lateinischen nicht vorbei, auch nicht mit Diskutieren oder Interpretieren.
Auch die Musik hat viel Lateinisches zu bieten. Nicht nur haben viele Instrumente Namen lateinischen Ursprungs, von der Triangel über Flöte, Klarinette, Fagott, Bratsche, Posaune und Klavier bis hin zur Tuba und zum Kontrabaß; auch in zahlreichen Grundbegriffen (Note, Takt, Kadenz, Akkord, Terz, Quart usw., Komposition, Konzert, Partitur, Kantate, Arie, Fuge, Etüde), den Stimmlagen (Sopran, Tenor, Alt und Baß) und in den Spielanweisungen (piano, forte, crescendo, decrescendo, allegro, ad libitum usw.) finden wir die Sprache der Römer wieder.
Im Religionsunterricht, der nach Konfessionen getrennt erteilt wird, spricht man vom Alten und Neuen Testament, von der Arche Noah, von der Passion und dem Kreuz, von den Sakramenten, von Orden, von der Reformation oder auch von Sekten, Okkultismus und Spiritismus, oder man unternimmt eine Exkursion zum Dom in Münster.
„Nun“, wird der Kritiker entgegenhalten, „in den Sprachen, Musik und Religion lateinische Wurzeln auszumachen, ist nicht weiter verwunderlich; aber wie sieht es in der Mathematik und den Naturwissenschaften aus?“
Mathematik, Physik und Biologie sind Wörter aus dem Griechischen (dem das Lateinische im übrigen zahlreiche Begriffe verdankt, die es später in latinisierter Form den Tochter- und Nachbarsprachen weitergereicht hat), doch bereits mit den Grundrechenarten (addieren, subtrahieren, multiplizieren, dividieren) und ihren Resultaten (Summe, Differenz, Produkt) wird es lateinisch; dies gilt auch für die höhere Mathematik, wenn es um Prozentrechnung, Inter- und Extrapolation, Kurvendiskussion, Faktoren und Funktionen, Sinus und Cosinus geht.
Die Biologie beschäftigt sich mit Flora (z. B. mit Aprikose, Birne, Mandel, Melone, Pfirsich, Salat, Zitrone, Zwiebel und zahlreichen anderen Pflanzen) und Fauna (z. B. Elefant, Esel, Flamingo, Kormoran, Krokodil, Pfau, Zebra); in der Physik begegnen uns Begriffe wie z. B. Amplitude, Batterie, Kabel, Linse, Maschine, Motor und natürlich die Relativitätstheorie. Das Wichtigste in der Chemie sind die Elemente, und viele Abkürzungen auf der großen Elemententafel verweisen auf deren lateinische Namen, z. B. Fe = Ferrum (Eisen), Pb = Plurnbum (Blei), A1= Aluminium. Ag = Argentum (Silber) und weitere Metalle. Die Schüler schätzen vor allem die Experimente, bei denen man nicht nur dann achtsam vorgehen muß, wenn sie mit explosiven Stoffen geschehen. Ungefährlicher ist es da schon, Stoffe kondensieren oder Zucker zu Karamel werden zu lassen (auch wenn letzterer vielleicht nicht so gut schmeckt wie die Mohrenköpfe von der Referendarin, die gerade ihr Examen erfolgreich absolviert hat).
„Aber wir“, könnten schließlich die Sportler sagen, „kommen ganz ohne Latein aus!“
Weit gefehlt: Schon das Wort Sport ist lateinischer Herkunft (von vulgärlateinisch deportare = zerstreuen, vergnügen). Ganz gleich, ob es darum geht, sich in der Kabine umzuziehen, beim Turnen die Balance zu halten, Kondition zu trainieren, defensiv oder offensiv zu spielen, die gegnerische Mannschaft mit einem Konter zu überraschen: Immer ist Latein mit von der Partie. Selbst so modern klingende Sportarten wie Squash (von ex + quassare = heftig schütteln, zerschlagen) oder Volleyball (von volare = fliegen) leiten sich vom Lateinischen her. Kommen wir zu den Schülern zurück, deren Ausrüstung am Beginn des lateinischen Ausfluges durch den Bereich „Schule und Lernen“ stand.
Nicht nur die Eltern, sondern auch das ganze Kollegium wünscht ihnen, daß sie sich von der Vielzahl der Tests, Klassenarbeiten und Klausuren nicht irritieren lassen, daß sie gute Kameraden und Kameradinnen finden, die ihnen helfen, wenn sie nicht alles kapiert haben, daß sie ihren Kopf nicht hängen lassen, wenn sie einmal eine weniger gute Zensur oder auch einen blauen Brief bekommen - das ist auch schon Genies passiert- und daß sie schließlich das Ziel ihrer schulischen Laufbahn erreichen und das Abitur mit Bravour bestehen!
Latein - eine tote Sprache?
Nein, Latein lebt, und das nicht nur in medizinischen, technischen, juristischen, theologischen oder sonstigen wissenschaftlichen Fachsprachen, sondern in unserem alltäglichen Sprachgebrauch: Verba Latina ubique sunt! Lateinische Wörter sind überall!
Quod erat demonstrandum.
Michael Hakenes in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1996, Münster 1996