Delirant plane magistri - nonnumquam tamen usui sunt


[...] Im Frühjahr 1991 haben die Schülerinnen und Schüler der Klasse 5c einen intensiven „Dialog mit der Antike“ geführt und ein lateinisches Theaterstück geschrieben, einstudiert und unter Beteiligung der gesamten Klasse aufgeführt. Bei aller intensiven und anstrengenden Arbeit, die mit dem Lateinunterricht notwendigerweise verbunden ist, mag dieses Stück als Beispiel für die Anschaulichkeit des Lateinunterrichts und den Spaß dienen, den Schüler - auch in der Anfangsphase - dabei haben können.

Ein ungewöhnliches Treffen


1. Teil
Ein Erzähler gibt vor dem geschlossenen Vorhang eine Einleitung:
Hochverehrtes Publikum!
Seit wann gehen Kinder in diesem Land in die Schule? Seit wann lernen sie zu lesen, zu schreiben, zu rechnen und auch all die vielen anderen Dinge, die sie meistens später gar nicht mehr brauchen? Was, das wissen Sie nicht?
Wir werden es Ihnen verraten. Wir zeigen Ihnen heute, wie der erste Lehrer nach Germanien, d. h. hier in unser Land kam, und wie sich die ersten germanischen Schüler freiwillig in seine Gewalt begaben. Vergessen Sie Zeit und Raum und folgen Sie uns viele Jahrhunderte zurück...
Wir befinden uns im 3. Jahrhundert nach Christi Geburt in Köln am Rhein, das damals „Colonia Agrippina“ hieß und zum römischen Reich gehörte. Einheimische und Römer leben hier friedlich nach römischer Sitte und Lebensart zusammen. Es gibt Schulen, in denen römische Schüler unterrichtet werden, deren Eltern in Köln leben. Sie lernen lesen, schreiben, rechnen, etwas über römische Geschichte, vor allem aber, daß die Römer die Herren der Welt sind.
Jenseits des Rheins leben die Barbaren. Es sind Germanen. Ihnen gefällt es aber in den dunklen und kalten Wäldern nicht mehr. Sie möchten in wärmeren Ländern bequemer leben. Also packen sie ihre Sachen und begeben sich auf Wanderschaft ins römische Reich. Durch diese „Völkerwanderung“ versetzen sie die Römer in Angst und Schrecken.
Langsam öffnet sich der Vorhang. Die Schulklasse mit dem Lehrer und den Schülern wird sichtbar: Noch aber ist in Köln alles ruhig. Die Schüler und Schülerinnen der römischen Schule lernen fleißig. Sie verehren ihren Lehrer und tun nichts, um ihn aufzuregen ...
Der Erzähler verschwindet von der Bühne.
Lehrer: Salvete discipuli discipulaeque!
alle: Salve magister!
L: Hodie me iuvat ludum habere! Caelum serenum est, aves cantant, cuncti adestis!
Schüler 1: Non cuncti adsumus!
L.: Quis abest?
S2: Titus abest. Aeger est.
L.: Saepe aeger est! Fortasse libenter abest. Sed nunc vos rogo: Quid heri egimus?
S3: Heri tibi stomachum fecimus!
L.: Tace, Quinte! Asinus es!
Quintus weint.
L.: Quid ergo heri tractavimus?
S4: Fabulam miram narravisti, magister, de factis praeclaris Romanorum.
L.: Ita est! Narra nobis fabulam, Aule!
S5: Parvus numerus Romanorum Capitolium Romauum tenet. Nam Galli summo studio Capitolium expugnare student. Sed Romani fessi sunt. Subito Galli sub muro sunt. Iam murum superant...
L.: Perge narrare, Sexte!
S6: Subito anseres deae clamant et Romanos fessos excitant. Statim Romani advolant et multos Gallos necant. Barbari fugae se dant.
L.: Boni estis, Aule et Sexte!
Publius murmelt gelangweilt:
S2: Nunc nihil iam expecto nisi illud „Romani domini mundi sunt“...
L.: Clamate cuncti: Romani domini mundi sunt!
Die Schüler rufen im Chor:
alle: Romani domini mundi sunt!
Der Lehrer dreht eine kleine Statue zur Klasse, die den Gott Saturn zeigt. Auf der Statue ist aber in großen Buchstaben zu lesen:
  Delirant magistri, plane delirant!
L.: Quis hoc fecit?
Die Schüler schweigen und kichern.
L.: Nemo hoc fecit! Male morati estis! Itaque cuncti decies scribere debetis: Magistro parere debemus. Nam magister nos docet et nos sapientia superat!
Die Schüler schreiben. Es tritt Ruhe ein.

2. Teil
Eine Gruppe von kleinen Germanen betritt die Bühne. Sie kommen langsam und neugierig in die Schule und betrachten alles interessiert. Die Römer sind entsetzt und drängen sich erschreckt, aber auch kampfbereit zusammen.
L.: Barbari, barbari! Cavete, discipuli discipulaeque!
G1: Was ist das denn hier? Warum sind denn hier so viele junge Römer?
G2: Die machen ja hier wohl auch ganz merkwürdige Sachen. Hier sind Gegenstände und Zeichen, die ich nicht verstehe!
Der Lehrer wendet sich zu den Germanen.
L.: Vos ignoro. Germani estis?
G3: Der fragt uns, wer wir sind.
G4: Woher weißt du das?
G3: Ich kann ihn verstehen. Wir hatten früher einen Sklaven, einen römischen Legionär, den mein Vater gefangen hatte.
G4: Und was ist jetzt mit dem?
G3: Die Römer haben Lösegeld geschickt. Da haben wir ihn zurückgegeben.
Der Germane wendet sich an die Römer.
G3: Wir sumus Germani!
S9: Ihr Germanen seid? Was Ihr wollt?
G5: Warum sprichst du unsere Sprache?
S9: Mein Vater germanischen Sklaven besitzt. Meinen Vater beschützt, wenn mein Vater auf Reisen.
G5: Wir sind auf Wanderschaft. Wir wollen ins römische Reich. Da soll man besser leben können als bei uns. Vielleicht gehen wir auch nach Rom und erobern es.
S9: Germanen Rom nicht erobern können. Römer Herren der Welt sind!
G6: Das war einmal. Jetzt sind wir stärker und machen, was wir wollen!
Es entsteht ein Tumult. Römer und Gerrnanen streiten sich und schreien dabei:
Römer: Domini mundi sumus. Germani servi sunt.
Germanen: Die Römer blasen sich nur auf. Wir sind viel stärker!
Schließlich greift der Lehrer ein:
L.: Tacete, tacete! Considite! Vos, discipuli discipulaeque, scribite: Magistro parere debemus! Vos, Germani, tacete! Spectate discipulos Romanos!
Die Schüler hören auf zu streiten.
G7: Was hat euer Lehrer gesagt?
S9: Ihr Germanen uns zusehen sollt. Wir Römer scibere müssen. Ich nicht weiß, was scribere in eurer Sprache heißt.
G8: So etwas habe ich auch noch nie gehört.
S9: Ihr uns zuseht. Dann ihr sehen könnt, was 'scribere' ist!
Die Germanen stellen sich hinter die römischen Schüler und schauen ihnen zu.
G9: Was habt ihr davon, wenn ihr scribt?
S9: Lehrer uns über Länder des römischen Reiches, Taten berühmter Römer und Taten anderer Völker und viele andere Dinge erzählt. Das alles wir scribimus. So wir nie etwas vergessen können und alle sehr klug werden.
G10: Alles, was ihr lernt, steht in diesen Krakeln auf diesen schwarzen Dingern?
S9: Das sind 'tabulae'!
G10: 'Tabulae' ist ein schönes Wort. So etwas können wir auch gebrauchen!
G11: Ist ja toll! Und wer lehrt euch scriben?
S9: Lehrer!
G11: Dann lernt ihr alles von dem Mann da?
S9: So es ist!
L.: Tacete! Tacete!
Die Germanen reden untereinander.
G12: Ich hab's! Wir nehmen den Lehrer einfach mit. Dann lernen wir auch 'scribere' auf 'Tabulae'.
G11: Und die Römer? Wir können ihnen doch nicht einfach den Lehrer klauen!
G12: Die Römer bekommen schon einen neuen Lehrer. Die können ja auch schon 'scriben'.

3. Teil
Die Germanen gehen zum Lehrer, packen ihn, setzen ihn auf einen Stuhl und wollen ihn wegtragen. Der Lehrer wehrt sich heftig.
L.: Adeste mihi! Adeste mihi, discipuli! Servate me, pueri boni!
Die römischen Schüler greifen die Germanen an. Sie versuchen, den Lehrer zu befreien. Dabei schreit der römische Schüler, der Germanisch kann:
S9: Was ihr wollt? Warum ihr Lehrer angreift? Wir euch nichts getan haben!
G13: Wir wollen niemandem etwas tun! Wir wollen nur den Lehrer mitnehmen. Er soll uns 'scriben' beibringen. Ihr bekommt doch leicht einen neuen Lehrer. Vielleicht könnt ihr ja auch schon genug.
Der römische Schüler ruft seinen Mitschülern zu:
S9: Desinite pugnare! Audite! Germani magistros non habent. Itaque magistrum nostrum auferre volunt.
S10: Si autem cum magistro avolant, nobis tamen non nocent.
Alle: Cur nobis non nocent?
S10: Si magister abest, feriae nos delectant.
Alle: Bonus es! Desideramus et amamus ferias!
Der römische Schüler, der Germanisch kann, sagt zu den Germanen:
S9: Wir eine Entscheidung haben getroffen. Ihr Lehrer nehmt. Wir uns freuen. Für uns nämlich jetzt 'Feriae' anfangen!
G13: Was sind 'Feriae'?
S9: 'Feriae' Tage sind, wo Schüler Lehrer nicht haben und nicht müssen lernen. Ihr auch noch lernt, wie schön sind 'Feriae'! Jetzt geht! Publius euch Weg aus der Stadt wird zeigen, damit euch Wachen nicht fangen. Wenn ihr seid draußen, dem Lehrer den Mund haltet zu. Dann er kann nicht schreien!
G13: Danke für den Hinweis!
Die Germanen ziehen mit dem verdutzten Lehrer ab.
Römer: Valete, amici!
Germanen: Auf Wiedersehen! Und schöne 'Feriae'!
Der Erzähler kommt lauf die Bühne.
So kamen die germanischen Schüler in die Schule. Sie lernten schreiben und noch viele andere Dinge, sobald sich der Lehrer an Germanien gewöhnt hatte. Die Schüler aber aus der römischen Schule in Köln hatten herrlich lange Ferien.
Santa Bitter in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1996, Münster 1996