Latein als Proprium im Fremdsprachenunterricht

der Sekundarstufe I an der Kardinal-von-Galen-Schule

Von den 14 münsterschen Gymnasien bieten 5 Schulen die Möglichkeit, in Klasse 5 eine andere Anfangssprache als Englisch zu erlernen: Am Paulinum und am Schillergymnasium muß man mit Latein beginnen, das Pascalgymnasium bietet wahlweise Französisch oder Englisch an, an der Marienschule und am KvG kann man zwischen Englisch und Latein als erster Fremdsprache wählen.
Da Besonderheiten in Sprachenfolge und Sprachenangebot das Profil einer Schule entscheidend mitbestimmen und das Lateinische am KvG im Bereich der Sekundarstufe I eine besondere Rolle spielt - denn es ist außer in Klasse 5 auch in Klasse 7 oder 9 wählbar -, sollen im folgenden als Beitrag zur Eigendarstellung unserer Schule einige Ziele und Methoden des Lateinunterrichts in Grundzügen vorgestellt werden. Dies scheint mir zum einen deshalb notwendig, weil sich der Sinn des Lateinunterrichts oft nicht so offenkundig und greifbar präsentiert wie beispielsweise der des Englischunterrichts, und zum anderen auch, weil sich das Selbstverständnis der Alten Sprachen in den letzten Jahren stark gewandelt hat: von einer Phase der Unangefochtenheit, sicher auch oft der Selbstherrlichkeit, durch die Krise der späten sechziger Jahre bis hin zur jetzigen Konsolidierungsphase, in der sich das Fach Latein (ebenso wie das Griechische) nach intensiver Selbstreflexion ausdrücklich der Anforderung stellt, seinen Teil zu den von den Richtlinien geforderten Bildungs- und Erziehungszielen zu leisten, die „Effektivität” und „gesellschaftliche Relevanz” seiner Lernziele nachzuweisen und sein didaktisch-methodisches Vorgehen transparenter zu machen. Anders als bei der Vermittlung Neuer Sprachen wird im Lateinunterricht Deutsch gesprochen, lateinische Sätze werden nicht produziert, sondern analysiert und übersetzt, und der lnhalt der Lesestücke führt den Schüler von Anfang an in eine ihm weitgehend fremde Welt (Sklavenhaltung, Gladiatorenkämpfe) ein.
Bei dieser Art von Unterricht werden folgende Ziele anvisiert:

1. Förderung des sprachlichen Ausdrucksvermögens im Deutschen
Da das Lateinische eine Welt beschreibt, die in vielen Zügen von unserer Erfahrungs- und Vorstellungswelt verschieden ist, ist die Wiedergabe eines lateinischen Wortes oft nicht durch eine einfache Gleichsetzung mit einem deutschen Wort möglich, sondern bedarf einer abwägenden Umschreibung. Gleiches gilt auch für die Behandlung grammatikalischer Besonderheiten der lateinischen Sprache; die es im Deutschen keine Entsprechung gibt (z.B. ablativus absolutus). Die Suche nach der besten Formulierung beim Übersetzen leitet den Schüler an, seine muttersprachlichen Kenntnisse in immer stärkerem Maße auszuschöpfen und das Spektrum seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit ständig zu vergrößern. Die Erweiterung und Differenzierung des Wortschatzes und die Nuancierung von Stil und Sprachvermögen im Deutschen dürfen neben der Einführung in den Bereich der Fremdwörter und den der wissenschaftlichen Fachsprachen als sichere Wirkungen einer Beschäftigung mit der lateinischen Sprache angesehen werden und können so ein Gegengewicht zum heute nicht selten beklagten Sprachverfall durch Slang, Comic-Deutsch, Modewörter und Wortverkrüppelung bilden.
Dazu ein Zitat des Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Professor Berchem: „Ich stelle bei den Studenten immer wieder fest, daß es ein Auseinanderklaffen zwischen der Intelligenz und der Möglichkeit gibt, das, was man zu sagen hat, in Worte zu fassen.” Zumindest einen Teil der sprachlichen Defizite führt Berchem darauf zurück, daß es in der Schule „kaum noch üblich ist, vernünftige Übersetzungen fremdsprachlicher Texte ins Deutsche oder umgekehrt anzufertigen. Gerade dies aber treibt das Sprachvermögen an, denn man muß ja mit dem Text ringen, um ihn in die deutsche Sprache zu transponieren.”

2. Aufbau einer metasprachlichen Kompetenz
Grundlage für die Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche und den systematisch betriebenen Strukturvergleich beider Sprachen ist der sukzessive Erwerb einer metasprachlichen Kompetenz, also der Fähigkeit, sprachliche Äußerungen unter bewußter Verwendung eines festen Repertoires von grammatisch-linguistischen bzw. rhetorischstilistischen Begriffen zu beschreiben, zu analysieren und zu deuten. Metasprachliche Kompetenz zu besitzen, führt deshalb nicht nur dahin, beim Erlernen weiterer Fremdsprachen auf ein grammatisches Verstehensgerüst rekurrieren zu können, sondern bewirkt auch eine veränderte Einstellung gegenüber Sprache im allgemeinen; denn der Schüler erfahrt Sprache so als verfügbares und durchschaubares Instrument, das von Menschen geprägt und benutzt, aber auch zu Manipulationszwecken mißbraucht werden kann. Ein Sprachwissenschaftler schreibt dazu: „Der pädagogische Wert einer solchen metasprachlichen Kompetenz ist hoch anzusetzen; sie verwandelt das naive Sprachbewußtsein der Schüler in ein reflektiertes; sie bewahrt sich im Transfer auf Lebenssituationen, indem sie vor der Überwaltigung durch Sprache schützt, und sie hilft mit, daß junge Menschen dem massiven Angebot unterschiedlicher Zeichensysteme kritisch standhalten können.”

3. Förderung des logisch-kombinatorischen Denkvermögens
Oft kann man die Behauptung hören, Latein sei eine besonders logische Sprache. Das ist eine unpräzise Formulierung. Die lateinische Sprache selbst ist nicht logischer als andere Sprachen, die Beschäftigung mit dem Lateinischen aber verlangt logisches Denken und Kombinationsvermögen bzw. bildet diese Fähigkeiten beim Schüler weiter aus. Denn im Gegensatz zu deutschen und neusprachlichen Normaltexten, die ein Schüler in der Regel auf Anhieb verstehen kann, erfordert ein lateinischer Text zunächst eine systematische und gründliche Entschlüsselung. Die Ursache hierfür ist nicht nur in den Bedeutungsvarianten einzelner Vokabeln, in den Besonderheiten des lateinischen Satzbaus oder im vielleicht fremdartigen Inhalt der Texte zu suchen, sondern u.a. auch darin, daß viele lateinische Wörter mehrdeutige Flexionsendungen haben, von denen die jeweils gerade passende aus dem syntaktischen Zusammenhang erschlossen werden muß, oder daß beispielsweise bei der Übersetzung eines ablativus absolutus im Deutschen derjenige Junktor gefunden werden muß, der die Aussage des ablativus absolutus in logisch und textgrammatisch sinnvoller Weise mit dem übrigen Text verknüpft. So hält der Lateinunterricht in einer Zeit der Reizüberflutung, in der lnformationen oft nur hastig und oberflächlich aufgenommen und verarbeitet werden, zu gründlichem und präzisem Vorgehen an; er fordert Sachlichkeit und sprachliches Einfühlungsvermogen, er führt zu abstraktem, selbständigem und folgerichtigem Denken sowie zu der Fähigkeit, Hypothesen zu bilden, sie auf ihre Schlüssigkeit bin zu prüfen und sie anschließend je nach dem Ergebnis zu akzeptieren bzw. zu verwerfen. Dies aber ist – wenn auch zunächst nur an einfachen Modellen praktiziert – eine geistige Voraussetzung für jede Form wissenschaftlichen Arbeitens.

4. Erweiterung des geistigen Horizontes
Das Lateinische hat die Sprachen und Denkweisen, die Zivilisation und Kultur von Westeuropa entscheidend mitgeprägt. Die geistige Auseinandersetzung mit Sprache, Geschichte und Lebensart der Römer, die im Unterricht neben der Textarbeit auch durch Dias, Folien und Filme veranschaulicht werden können, ermöglicht dem Schüler der Oberstufe, ansatzweise aber auch schon dem jüngeren Schüler, ein vertieftes Verständnis der eigenen Position, denn sie weist ihn auf die historische Bedingtheit seiner Kultur und Tradition und damit auf die ReIativität des eigenen Standpunktes hin und schafft so die Grundlage für eine rational begründete Toleranz gegenüber fremden Haltungen und Denkweisen. Günstig für die selbständige Meinungsbildung des Schülers wirkt sich dabei aus, daß die zeitliche Distanz alle Bezüge objektiviert und die historische Ferne emotionale Neutralität begünstigt.
Die hier aufgeführten Intentionen - Fachdidaktiker sprechen in diesem Zusammenhang gern vom allgemeinen Ziel der Studierfähigkeit - können sicher nicht ausschließlich dem Fach Latein zugeordnet werden; es gibt gewiß Überschneidungen mit den Fächern Deutsch, Geschichte, Mathematik und auch mit den Neuen Fremdsprachen.
Für sich allein genommen vermag vielleicht keines der Ziele den Lateinunterricht hinreichend zu begründen, das Zusammenwirken der vielfältigen und verschiedenen Ausrichtungen des Lateinunterrichts aber ergibt eine solche Bandbreite bei der Förderung der geistigen Fähigkeiten der Schüler, daß der Fächerkanon des Gymnasiums ohne das Proprium Latein wohl kaum vorstellbar erscheint.
Es sei noch darauf hingewiesen, daß die genannten Intentionen des Lateinunterrichts aufgrund ihrer äußerst komplexen Natur nicht kurzfristig erreicht werden können, sondern zu ihrer Realisierung eines mehrjährigen, möglichst früh einsetzenden Unterrichts bedürfen. Von daher verwundert es nicht, wenn beispielsweise die englische Schulstadt Eton, die ihre Schüler u.a. auf den Besuch der Elite-Universitäten Oxford und Cambridge vorbereitet, Latein als erste Fremdsprache verbindlich vorschreibt.
Doch zurück zum KvG, das mit seinem wechselnden Angebot an Anfangssprachen ein unverkennbares Abbild des jeweiligen didaktischen Zeitgeistes darstellt und die drei eingangs erwähnten Phasen in der Einschätzung des Faches Latein deutlich widerspiegelt: War an der Schule zunachst ausschließlich der Beginn mit Latein als erster Fremdsprache möglich, so änderte sich dies bei Einführung der Koedukation. Kurz nach dem Einzug der Mädchen wurde Englisch als einziger fremdsprachlicher Einstieg in das KvG festgeschrieben. (Ob es da wohl einen Zusammenhang mit der Einstellung mancher Lehrer gegenüber dem weiblichen Geschlecht - Frauen und Logik? O weh! - gibt?)
Heute präsentiert sich das KvG vom Fremdsprachenangebot her als moderne, pluralistisch orientierte Schule, die den individuellen Neigungen der Schüler entgegenkommt, indem sie ihnen eine breite Palette an Wahlmöglichkeiten offenhält, und auch indem sie trotz des damit verbundenen erhöhten Aufwandes bei der Erstellung des Stundenplans darauf verzichtet, bestehende Klassenverbände nach der Wahl der zweiten Fremdsprache aufzulösen und neu zusammenzusetzen. Daß das KvG also als einzige Vorstadtschule von Münster der fremdsprachlichen Gleichmacherei der Schüler entgegentritt und daß keinem Schüler der Sekundarstufe I - und nur davon handelt dieser Aufsatz - stundenplantechnische Nachteile aufgrund seiner Sprachenwahl entstehen, das, so meine ich, verdient, sehr positiv hervorgehoben zu werden.
Martina Fritzen-Hillebrand in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1986. Festschrift zum 40jährigen Jubiläum des Gymnasiums, Münster 1986