Die Anerkennung des Bundeskanzlers
Ein literarisches Plädoyer für Frieden, Toleranz, Humanität
 |
Zuflucht
Aus der Heimat vertrieben
Zuflucht - Deutschland
Hoffnung auf Arbeit, Sicherheit
und neue Existenz
Menschen, die Hilfe brauchen
von uns!
Menschlichkeit und Toleranz! Alexandra Hofmann |
Im Dezember des Jahres 1994 weilte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden
in Deutschland, Ignatz Bubis, am Kardinal von Galen-Gymnasium in Münster-Hiltrup,
um mit Oberstufenschülern über ein friedliches Miteinander ganz unterschiedlich
geprägter Menschen zu diskutieren. Das Jahr 1995 wurde von den Vereinten
Nationen zum Jahr der Toleranz ausgerufen. Diese beiden Ereignisse bildeten
den Anlaß für vier Oberstufenkurse der Jahrgangsstufe 12 des KvG,
sich intensiver mit der damit verbundenen Problematik auseinanderzusetzen und
selbst aktiv etwas für die Werte Frieden, Toleranz und Humanität zu
tun. Im Rahmen verschiedener Unterrichtsreihen entstand ein Lyrikband mit dem
Titel „Frieden, Toleranz, Humanität - Lyrik gegen Haß, Intoleranz,
Unmenschlichkeit“.
Ein Leistungskurs Deutsch, zwei Grundkurse Deutsch und ein Leistungskurs Kunst
der Jahrgangsstufe 12 setzten sich mit dem nach wie vor aktuellen Problem des
Fremdenhasses literarisch-künstlerisch auseinander. Die Schülerinnen
und Schüler der Deutschkurse hatten die Aufgabe, in lyrischer Form Gedanken
zu den Leitbegriffen Frieden, Toleranz und Humanität zu entwickeln, literarisch
aufzubereiten und verdichtet an konkreten Beispielen zu verdeutlichen und zu
vertiefen. Die Gedichte nähern sich aus unterschiedlichsten Blickwinkeln
dem Komplex: teils vorsichtig subjektiv, teils bissig direkt, teils überzogen
verdichtet, teils emotional feinfühlig, teils fundiert sachlich. Die Auswahl,
die letztendlich für den Lyrikband gewählt wurde, macht in exponierter
Weise deutlich, wie junge Menschen sich diesem hochsensiblen Bereich nähern
und wie sie in der Lage sind, klare Positionen einzunehmen und kritisch Verhaltensweisen
und Denkmuster, aber auch Vorurteile und festgefügte Meinungen zu reflektieren
und kritisch zu hinterfragen. So sind die Gedichte nicht nur eine Beschreibung
der gegenwärtigen Verhältnisse in Deutschland, sondern sie versuchen
auch und besonders, zum Nachdenken anzuregen und Veränderungen herbeizuführen.
Alltag
fremd ist alles
was wir bestimmen
heute hier, morgen dort
es brennt
nie mehr ein gestern
wenn du verzweifelst
die geschichte zeigt
wahrheit
und
liebe
siegen immer
auch wenn es der
längere weg ist
Uwe Kippschnieder |
 |
Dieser appellative Charakter wird etwa in dem Gedicht „Zuflucht“ von
Alexandra Hofmann deutlich, wenn sie Menschlichkeit und Toleranz fordert. Oder
Uwe Kippschnieder, der Wahrheit und Liebe metaphorisch verdichtet und in seinem
Gedicht „Alltag“ anreißt. Die scheinbare Hilflosigkeit des
Einzelnen wird bei Daniela Bartels deutlich; Solidarität versucht Britta
Schepmann zu thematisieren und an Beispielen zu verdeutlichen. Andrea Hupe wiederum
verdichtet die Thematik bei zwei vollkommen unterschiedlichen Menschen, die
in einer Konfliktsituation sich selbst und das Gegenüber finden.
Die Schülerinnen und Schüler des Kunstkurses erstellten zu den Texten
Schwarzweißfotos, die den Bereich der gestörten Kommunikation visuell
umsetzen sollten. Hierzu gehören beispielsweise Fenster und Türen,
Treppen und Klingeln, Schlösser und Briefkästen; Dinge, die sowohl
eine Begegnung der Menschen fördern und ermöglichen, aber auch verhindern
und unmöglich machen können. Aus dieser Verbindung von Texten und
Bildern ergibt sich in beeindruckender Weise ein zugespitztes Spiegelbild der
gegenwärtigen gesellschaftlichen Problematik. Es soll auf der einen Seite
Mut machen, Zivilcourage zu zeigen und für Frieden, Toleranz und Mitmenschlichkeit
einzutreten, immer und überall, wann und wo es erforderlich ist. Es soll
helfen, Apathie zu überwinden und sich in der Demokratie zu artikulieren.
Es soll aber auch dazu beitragen, eigene Einstellungen zu überdenken, sie
kritisch zu reflektieren und, wenn nötig, zum Umdenken zu animieren.
Dieser Lyrikband gegen Intoleranz, Unmenschlichkeit und Krieg ist ein Appell,
damit die Reihe von Orten wie Hünxe und Lübeck, Solingen und Hoyerswerda
und andere Stätten des Schreckens keine Fortsetzung mehr finden kann.
 |
Hilflos
Neben mir geht die Tür auf
zwei Polizisten führen eine dunkle
Gestalt aus der Wohnung „Abschiebung“ -“Scheinasylant“
Sie schubsen - treten - Handschellen
klicken
Von Angst erfüllte Augen blicken mich
hilfesuchend an
Doch ich kann nichts tun
Ich bin wie gelähmt
Ein Gefühl der Ohnmacht
Ich kann es nicht fassen
Das dumpfe Zuschlagen der Tür weckt
mich aus meiner Erregungslosigkeit
... mein bester Freund
Daniela Bartels |
Der Lyrikband „Frieden Toleranz Humanität“ stieß in der
Öffentlichkeit auf breite Resonanz. Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats
der Juden in Deutschland, schrieb von einem „beeindruckenden Zeugnis des
Engagements Ihrer Schüler gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit“.
Aus dem Bundespräsidialamt in Bonn kam folgende Stellungnahme: „Für
uns ist es sehr erfreulich zu sehen, daß sich die Schüler des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums
so engagiert um eine Aufarbeitung der Geschichte bemühen. Die Gedichte
der einzelnen Schülerinnen und Schüler und die Photo-Beiträge
sind durchweg treffend und zeugen von außerordentlicher Beobachtungsgabe.
Wir werden die Lyrikbroschüre des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums in die
Bibliothek des Bundespräsidialamtes aufnehmen, so daß sie dem Bundespräsidenten
und allen Mitarbeitern zur Verfügung steht.“
Die Oberbürgermeisterin der Stadt Münster, Marion Tüns, schrieb:
„[...] Es ist die Bandbreite der Gefühle, Empfindungen und Realitäten
in den Gedichten, die, gepaart mit den eindrucksvollen Motiven der Fotografien,
die Publikation zu einer Besonderheit machen. Sie ist ein nachdenklich stimmender,
aufrüttelnder und fordernder Beitrag zur Toleranz, Humanität und zum
Frieden. Ich möchte Ihnen und den Schülerinnen und Schülern für
ihren Appell an die Zivilcourage jedes Einzelnen herzlich danken. Jede noch
so kleine Flamme ist eine Ermutigung.“
Von der Bezirksregierung Münster kam folgende Stellungnahme: „Die
Gedichte und die auf sie bezogenen Schwarzweißfotos leuchten in ihrer
Authentizität ein und führen vor allem über die klare Form der
Präsentation eindringlich Verweigerung und Kommunikation wie auch Möglichkeiten
der Begegnung vor Augen. Die aussagekräftigen Bildmotive und Texte sind
so aufeinander bezogen, daß immer wieder die Alltäglichkeit und Nähe
der mit Krieg, Intoleranz und Unmenschlichkeit sich zeigenden Probleme in den
Blick kommen, und machen aus dem Lyrikband einen zur Besinnung mahnenden Appell.
Das Produkt ist zudem ein gelungenes Beispiel für eine Form der fächerübergreifenden
Kooperation in der Oberstufe des Gymnasiums und spiegelt auch insofern den Geist
kritischer Auseinandersetzung und produktiver Zusammenarbeit wider, zu dem es
von seiner Intention her aufruft.“
Solidarität- ein Fremdwort? |
Morgens im Bus
Ein einziger Platz ist frei - neben einer alten Frau
Sie macht sich breit, als ein Ausländer sich
neben sie setzen möchte
Die Menschen schauen weg - Desinteresse, Angst
Solidarität? Ein Fremdwort |
Nachmittags am Bahnhof
Ein Rettungswagen nähert sich - Überdosis
Bei der Menschenmenge sehe ich Schaulust, wütendes
Kopfschütteln statt Betroffenheit und Hilfsbereitschaft
Solidarität? Ein Fremdwort |
Abends in der Kneipe
Skinheads sitzen am Stammtisch - trinken Bier
Einer von ihnen grölt über „Penner“, „Krüppel“
und „Kanaken“, erntet Beifall und Gelächter
Die Leute schauen weg - Feigheit, Gleichgültigkeit
Solidarität? Ein Fremdwort |
| Manchmal wünschte ich, es gäbe keine Fremdwörter mehr |
| Britta Schepmann |
|
 |
Die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth,
schrieb: „Ich habe mich sehr über die Zusendung gefreut und die Veröffentlichung
mit großem Interesse gelesen. Die Texte und Bilder haben mich sehr beeindruckt.
Ich bewundere das Engagement und den Einsatz, mit dem Sie und die Schüler
des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums dieses fächerübergreifende Unterrichtsprojekt
realisiert haben. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir es viel zu oft mit
Intoleranz und Diskriminierung zu tun haben, ist es besonders wichtig, daß
durch Projekte wie dieses an Ihrer Schule Sensibilität gelehrt wird im
Umgang mit anderen Menschen. Ich möchte mich daher Ihren Worten in der
Einleitung der Publikation anschließen, daß den Schulen in ihrer
pädagogischen Arbeit eine besondere Aufgabe zukommt und neben der Vermittlung
von Wissen gerade die Vermittlung von Werten einen immer größer werdenden
Stellenwert einnehmen muß. Nur eine Erziehung zur Toleranz, zum Frieden
und zur Humanität kann dazu führen, in unserer Gesellschaft ein friedvolles
Miteinander zu erreichen, in dem Zivilcourage kein Fremdwort ist. Ich danke
Ihnen für die auch künstlerisch sehr beeindruckende Umsetzung Ihres
Unterrichtsprojektes und möchte Ihnen und Ihren Schülern Mut machen,
auch in Zukunft nicht zu schweigen und sich weiterhin gegen Unmenschlichkeit,
Krieg und Intoleranz einzusetzen.“
Das Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen äußerte sich wie
folgt zu dem Lyrikband: „Die Schülerinnen und Schüler haben
eine bemerkenswerte Form gefunden, sich mit ethischen Fragen kritisch auseinanderzusetzen.
Angesichts der täglichen Berichte der Medien über gravierende Menschenrechtsverletzungen
ist es sehr erfreulich, daß sich Jugendliche engagiert gegen diese wenden
und sich für mehr Menschlichkeit einsetzen. Ich möchte den Schülerinnen
und Schülern und den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern meine Anerkennung
für die geleistete Arbeit aussprechen und bitte, dem Förderverein
des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums meinen Dank für die finanzielle Unterstützung
des Projekts zu übermitteln.“
Vom Bundeskanzleramt schließlich kam folgende Resonanz: „Diese Schrift
ist ein besonders beeindruckender Beitrag von Schülern, mit dem sie aus
Anlaß des 50. Jahrestages des Kriegsendes ihre Wertvorstellungen und Gedanken
über das Zusammenleben der Menschen in heutiger Zeit reflektieren. Texte
und Fotos geben Zeugnis einer beispielgebenden Haltung, die die Anerkennung
des Bundeskanzlers findet. Dem Bundeskanzler ist es ein wichtiges Anliegen,
daß sich die Bürger in unserem Lande der Verantwortung vor der Geschichte
stets bewußt bleiben und sich immer und überall der personalen Würde
jedes einzelnen vergewissern. Ich bitte Sie, den Schülerinnen und Schülern,
die an dieser Schrift mitgewirkt haben, den besonderen Dank des Bundeskanzlers
zu übermitteln und ihnen alles Gute für die Zukunft zu wünschen.“
Elisabeth Schulte Huxel, Meinhard Schulte, Werner Bockholt in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1996, Münster 1996