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Konstruktive Fotografie

Münster in Architekturfragmenten

Dieses Projekt dokumentiert die Ergebnisse einer künstlerisch-praktischen Arbeit des Leistungskurses Kunst der Jahrgangsstufe 13 (1992/93). Die vom Kunsterzieher Michael Rickert gestellte Aufgabe forderte von uns ein vollkommen eigenständiges Arbeiten. Die künstlerischen sowie technischen Schwierigkeiten von der Aufnahme bis zur Entwicklung der Bilder waren von jedem Einzelnen selbständig zu lösen. Als Thema war die Erarbeitung einer photographischen Sequenz vorgegeben. Münsteraner Architekturobjekte, die so eigenwillig wie bestimmend für das Stadtbild sind, waren Ausgangspunkt dieser Arbeit. Der künstlerische Schwerpunkt der Aufgabe lag in der Auswahl einzelner Architekturfragmente, die anhand von Annäherungen in abstrakter und somit bis zur Verfremdung gesteigerter Form festzuhalten waren.
Als Materialien dienten uns Kleinbild-, Spiegelreflex- oder Sucherkameras sowie unterschiedliche Objektive. Zur Vermeidung von Verwacklungen bei Langzeitaufnahmen sollten nach Möglichkeit Stative und Drahtauslöser verwendet werden. Teils mit festen Vorstellungen, teils ziellos zogen wir durch Münster, um geeignete Objekte zu fotografieren.
Natürlich war unser Auge nicht von vornherein darauf geschult, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Zugunsten eines neuen Sehens fand ein Entwicklungsprozeß in unserer Wahrnehmung statt. Dieses Sehen ist zweischichtig und konzentriert sich einerseits auf das Gebäude als komplexes Bauwerk, beinhaltet jedoch auch die Fähigkeit, abgelöst von Gesamtbauwerk künstlerisch interessante und wirkungsvolle Teilstrukturen und Einzelformen zu erkennen. Feste Vorstellungen wichen nun einer spontanen Arbeitsweise. Nicht vorsätzlich wurden die Objekte aufgesucht, sondern zufällig gefunden und spontan festgehalten - in Abwandlung des berühmten Picasso-Zitats: „Wir suchten nicht, wir fanden!“
Auch der Aspekt der menschlichen Interaktion sollte hier nicht unerwähnt bleiben. Während unserer Arbeit kamen wir mit zahlreichen Passanten in Kontakt, die sowohl freundliches Interesse als auch absolutes Unverständnis zeigten. Mit dem Fotoapparat vor einer Pfütze kniend, mußte man sowohl damit rechnen, belächelt zu werden oder sogar auf unfreundlichere Gesten gefaßt zu sein. Doch auch Freundlichkeit wurde uns entgegengebracht. Es gab Leute, die sich durch unser ziemlich auffälliges Auftreten geradezu zur Konversation angeregt fühlten.
Von ebenso großer Bedeutung waren die Erfahrungen, die wir untereinander während der gemeinsam zu bewältigenden Aufgabe sammelten. Erstmals entwickelte sich trotz sehr unterschiedlicher Charaktere ein spürbarer Teamgeist. Denn nicht wer egostisch seine Ziele verfolgte, gelangte auch zum Erfolg, sondern den Erfolg versprach nur die Zusammenarbeit.
Monika Flocke, Marina Scherf, Sebastian Reifig (Abitur 1993)
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Weniger oder mehr?


Die Frage nach der Zuordnung menschlicher Tätigkeit in den Bereich der Kunst stellt sich stets, aber vor allem heute, über den Qualitätsbegriff. Qualität meint zum einen sicherlich, wie weit sich dann ein konkretes Produkt, also ein Kunstwerk, innerhalb ästhetischer, immer aber innerhalb normativer Begrifflichkeit einer Höchst-, zumindest aber einer Hoch-Leistung zuordnen läßt.
Zum einen heißt Qualität auch, daß hier die Zuordnung zu Stilen oder zu Strömungen innerhalb der Kunst entscheidend ist für die Zuordbarkeit zur Kunst überhaupt.
Wenn denn der „Aufbau der Form aus kontrollierten Elementen, die in eine definierbare Beziehung gebracht werden können“, das Kriterium des Konstruktivismus sein soll (Kindlers Malerei-Lexikon Bd. 14, S. 110 ff.) bzw. hier eine Kunst geschaffen wird, „die den Bedingungen einer wissenschaftlich und technisch geprägten Zeit entspricht“ (ebenda), so muß - das ist der von ebenda formulierte Anspruch - ein entsprechend ästhetisches Erlebnis den Menschen vermittelt werden.

Weniger ist mehr?
Die Vermittlung dieses Anspruches soll in der Fotografie erfolgen.
Dieses gegenwärtig wohl meist genutzte Medium eignet sich eigentlich für die Abbildung, die mimetische Wiedergabe des Gesehenen; aber der Gedanke, dieses Medium im Bereich des Konstruktivismus einzusetzen, also vor allem abstrakter Bildauffassung, scheint zunächst abwegig.
Aber die Fotografie ist Ausdruck einer „technisch geprägten Zeit“ schlechthin: ohne dieses fotomechanische Verfahren ist unsere Zeit nicht denkbar; sie basiert auf einer Vielzahl chemisch-physikalischer Erkennnisse. Die Verarbeitung der heutigen Informationsflut ist gleichzusetzen mit der Entwicklung unserer Mediengesellschaft. Gleichwohl entspricht das fotografische Arbeiten physiologischen Sehvorgängen: Analog dem Konzentrationspunkt innerhalb des Sehkreises im menschlichen Wahrnehmungsvorgang gelingt eine Konzentration einmal über die Verwendung langbrennweitiger Objektive, aber auch über das schlichte Sich-Nähern an das zu fotografierende Objekt.
So legitimiert sich die Fotografie als Mittel zum Erarbeiten konstruktivistischer Bildformen über den Anspruch ihrer chemo-physikalischen Eigenart und in der Umsetzung von Erkenntnissen in der Wahrnehmungspsychologie.

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Weniger ist mehr?
Eines der Hauptanliegen des Konstruktivismus ist es, „Natur“, das heißt die sinnlich erfaßbare Dingwelt, in ihrer rudimentären Gestalthaftigkeit zu erfassen; meint, daß die Reduktion auf das Wesentliche hier den technischen Aspekt des Funktionalen auf lineare und farbige Grundformen hin entwickelt und in neuen Zusammenhängen zeigt. Architektur ist sicherlich ein Bereich, in dem das Technoide, das „Konstruktive“ im Vordergrund steht. Allerdings zeigt sich ein Gebäudekomplex als ein ästhetisches Gebilde, in dem sich in allen Bereichen diese Grundformen finden, bzw.: Das Gebäude besteht aus ihnen!
Die Isolierung einer entsprechenden Form löst sie aus dem Funktionszusammenhang, sie wird funktionslos, meint: „sinnlos“.
Sinn erhält die dann autonome Form in dem neufunktionalen Zusammenhang der Bildform als ästhetisches Gebilde. Sie bleibt ein Element des Technoiden, steigert aber in der Rückbildung auf das Elementare den Anspruch, als isoliertes (Teil-)Element einer Konstruktion konstruktiv, also neu-bildend, neu-schaffend im Sinne bildender Kunst sein zu wollen.

Weniger ist mehr?
Münsters Architektur zählt in Norddeutschland sowohl in historischer wie moderner / post-moderner Hinsicht zu den bedeutendsten, macht diese Stadt allgemein so bekannt - und trägt sicherlich in erster Linie zu ihrer Beliebtheit bei auswärtigen Besuchern bei.
Einher geht damit natürlich, daß diese Fotografie Anlaß für unzählige Fotografien, Bilder ist, die dann einem gewissen Teil auch als Reproduktionen in Publikationen enden.
So gesehen ist der Anspruch, ausgerechnet an Münsters Architektur und das in der Fotografie, Kunst verwirklichen zu wollen, ein vermeintlich aussichtsloses Unterfangen.
Es sei denn, daß hier ein Versuch unternommen wird, Münsters Architektur konstruktivistisch auffassen zu wollen und dabei die malerischen Aspekte der Fotografie bewußt einzubeziehen.
Die Ausstellung und der Katalog dieses Leistungskurses Kunst treten den Versuch an:

Weniger ist mehr!
Michael Rickert
Beide Beiträge in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1996, Münster 1996