Münster. Architekturverfremdungen - Architekturspielereien - Architekturvisionen

Ein Beitrag zum Stadtjubiläum 1993

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Beate Wand: Sankt Paulus-Kolosseum
Der Leistungskurs Kunst der Jahrgangsstufe 13 (1991/92) des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums in Münster-Hiltrup hat sich in einem Kurshalbjahr mit der Kunst des Mittelalters beschäftigt. Als künstlerisch-praktische Arbeiten entstanden in dem Zeitabschnitt Zeichnungen, die sich mit der romanischen und gotischen Architektur Münsters befaßten. Die Bilder, die vornehmlich mit Hilfe von Verfremdungen für zum Teil verblüffende visuelle Einsichten führten, dienten als Grundstock für das Projekt, anläßlich des münsterschen Stadtjubiläums diese in Form eines Bildbandes auch einer breiteren interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. An den Zeichnungen wurde daher weitergearbeitet, alte wurden überarbeitet, neue wurden hinzugefügt. Die spielerisch sich durch Münster bewegenden Oberprimaner, immer die „spitze Feder“ griffbereit, haben ein umfangreiches zeichnerisches Werk, vor allem mit Bleistift, Tusche und Farbstift, erstellt, das trotz einer Loslösung von der Realität mit einer illusionistischen Exaktheit erstellt wurde und so als ein visueller Kommentar zur Baugeschichte Münsters aufgefaßt werden muß.

Die Zeichnungen zur Baugeschichte und Architekturcharakteristik Münsters sind keine visuellen Nachahmungen der architektonischen Wirklichkeit, sie sind Produkte einer geistigen Auseinandersetzung mit der Geschichte, vor allem der Baugeschichte der Stadt, sie sind Erfindungen und damit Produkte der Phantasie, dennoch haben sie auf Grund ihres karikierenden, satirischen, surrealen und expressiven Stellenwertes immer einen Bezug auch zur Wirklichkeit. Dieser Bezug besteht einerseits in der räumlich-physiognomischen Konzentration auf die Stadt Münster, die Stadt ist sozusagen der Brennpunkt aller Zeichnungen.

In der visionären Übersteigerung und der surrealen Zuspitzung läßt sich andererseits ein wahrer Kern finden, der dazu beiträgt, das bauliche Bild und damit verknüpft den architektonischen Charakter der Stadt bewußt zu machen, eine Identifikation mit der Stadt, in der man lebt, aufzubauen und zur kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen räumlichen Umfeld und dessen Veränderungen anzuregen. Durch bewußt inszenierte Fehler im baulichen Kontext soll Verwirrung ausgelöst werden, werden Widersprüche deutlich und wird zumindest ein Schmunzeln hervorgerufen.

Ein wichtiges Ziel der Zeichnungen besteht darin, durch die visuelle Verfremdung und den visuellen Kommentar zu überraschen und zu erfreuen. Nicht allen Zeichnungen liegt unbedingt ein kritischer Unterton zugrunde, vielmehr haben die Bilder zum Ziel, ungewohnte, verblüffende Architekturansichten zu präsentieren und Freude an der fiktiven baulichen Variationsvielfalt zu vermitteln.

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Verena Schütte: Alles nur Fassade
Durch die Veränderung gewohnter Architekturobjekte bzw. deren Einbettung in neue räumliche Zusammenhänge sowie einer Isolation und einer Überschärfe soll der Blick für die vorhandenen baulichen und städtebaulichen Strukturen entwickelt und geschärft werden. Durch übersteigerte, z. T. fiktive und visionäre, traumartige und alptraumartige Herausbildungen von Ansichten soll dazu beigetragen werden, die Sensibilität für die bauliche Stadtentwicklung herauszubilden. Während das Gewohnte, das Alltägliche kaum noch wahrgenommen wird, sorgt eine Veränderung, ein Weglassen, ein Hinzufügen, eine Isolierung oder ein völlig neuer städtebaulicher Kontext dafür, daß Architektur bewußt aufgenommen wird und ihre Relevanz für das Gesicht und den Charakter einer Stadt erkannt wird. Teilweise stellen die Zeichnungen deutliche kritische Bezüge zur münsterschen Stadtentwicklung dar. Durch Übertreibung, Zuspitzung, karikierende Elemente wird die Gefahr angedeutet, die sich gerade im architektonischen Bereich immer wieder vorfinden läßt, daß Bauen immer weniger eine individuelle architektonisch-künstlerische Leistung darstellt oder regionale und lokale Bezüge erkennbar werden, sondern daß die Wirklichkeit die Vision von „unwirtlichen Städten“, wie sie Alexander Mitscherlich einmal bezeichnet hat, bereits eingeholt bzw. überholt hat.

Münster hat zwar diese Architekturvision, die für den Prinzipalmarkt nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg im Raum stand, abwenden und seitdem dieser auch erfolgreich gegenwirken können, dennoch besteht, vor allem in den Randbereichen der Stadt, die architektonische Gefahr einer zunehmenden baulichen Anonymität. Somit möchten diese Zeichnungen dazu beitragen, zu verdeutlichen, daß Münster eine Stadt mit einem unverwechselbaren charakteristischen Gepräge ist. Dieses bewirkt, daß eine ständige kritische Auseinandersetzung mit der städtebaulichen Entwicklung unabdingbar ist und ein einfühlsamer Umgang mit derArchitektur und dem Stadtbild und damit auch der Lebensqualität erforderlich ist.

Michael Rickert in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1996, Münster 1996