Was kann ich wissen?

Philosophieunterricht am KvG (1996)

Das Fach Philosophie nimmt an einer Schule in bischöflicher Trägerschaft eine besondere Stellung ein. Da an unserer Schule (anders als an staatlichen Schulen) alle Schüler das Fach Religion mindestens bis zum Beginn des 13. Jahrgangs belegen, treffen sich in den Philosophiekursen in der Regel Schüler mit einem ausgeprägten Interesse an philosophischen Fragen.

Der Anspruch des Faches orientiert sich an den Grundfragen Kants: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?

Der Philosophieunterricht bietet den Schülern ein Forum, diese Fragen individuell und im Gespräch mit anderen zu reflektieren. Unerschöpfliche Anregungen zum eigenen Philosophieren finden die Schüler im Rückgriff auf die Jahrtausende alte philosophische Tradition. In diesen grundlegenden Texten steht ihnen ein Fundus an Gedanken und Methoden zur Verfügung, der das eigene Denken schult und zur kritischen Auseinandersetzung mit bis dahin nicht hinterfragten Denkgewohnheiten führt. Damit das Verstehen der anspruchsvollen Texte auch gelingt, nehmen klassische Unterrichtsmethoden wie die streng hermeneutische Textinterpretation, der sokratische Dialog und das Unterrichtsgespräch im Philosophieunterricht nach wie vor einen hohen Stellenwert ein. Diese fortgesetzte „Arbeit am Begriff“ führt schließlich zu einem Erfolgserlebnis der besonderen Art, nämlich zu der Fähigkeit, ein philosophisches Buch in Gänze lesen und verstehen zu können.

Neben traditionellen Methoden haben längst neuere methodische Zugänge wie das Philosophieren anhand von Bildern und Filmen, das Einüben von Gedankenexperimenten oder das Verfassen von Essays (einschließlich der Teilnahme an der Philosophie-Olympiade) ihren festen Platz im modernen Philosophieunterricht des KvG gefunden. Zum Selbstverständnis des Faches gehört es auch, aktuelle gesellschaftliche und politische Problemstellungen aufzugreifen und sie kritisch reflektierend zu begleiten. Daher gehören „Realbegegnungen“ (Expertenbefragungen, Besuche außerschulischer Institutionen, Ausstellungsbesichtigungen) zum festen Programm des nur dem Vorurteil nach „abgehobenen“ Unterrichts. Ein bewusst offen gehaltenes Schulcurriculum sorgt dafür, dass aktuelle Ereignisse und die Interessen der Schüler in hohem Maße Berücksichtigung bei der Gestaltung des Kursprogramms finden können. Zudem suchen die Philosophiekurse oft die Kooperation mit Kursen anderer Fächer (Naturwissenschaften, Literatur, Kunst), um konkrete Fragestellungen in fachübergreifenden Projekten aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.

Philosophie überall?


Selbst der kleine Linus expliziert seinem Freund Charly Brown seine „Philosophie“. Aber der Witz seiner Philosophie besteht gerade darin, daß sie die Aufhebung der Philosophie beinhaltet, heißt doch Philosophieren gemeinhin: Probleme wahrnehmen zu wollen und sich ihnen zu stellen. Linus mag ein stückweit für die Schüler von heute (und nicht nur für die Schüler) stehen.

Unbestreitbar bleiben die Ergebnisse der Entwicklungspsychologie: im Ablösungsprozeß aus der Kindesrolle und damit einer autoritätsgebundenen Orientierung suchen die Heranwachsenden eine eigene Identität, möchten sie selbst sein. Doch wird diese Suche m. E. zu vorschnell von Philosophiedidaktikern als philosophische Grunddisposition reklamiert. Es ist ein den Philosophielehrer und Schüler in Anspruch nehmender Weg von dem „Ich möchte ich selbst sein!“ zu der Frage „Wer bin ich (dann)?“ noch viel mehr zu der grundsätzlichen (philosophischen) Frage „Was ist der Mensch?“ - die ja Kant bekanntlich für die Frage der Philosohpie par excellence gehalten hat.
Was soll ich tun?
Auf solchem Weg mag dann die Ausgangsmotivation schon mal auf der Strecke bleiben. Identitätsinteresse ist eben nicht o. w. gleich Orientierungsinteresse. Umfragen unter Schülern zeigen als Hauptmotiv für die Wahl eines Philosophiekurses die Erwartung, in einem solchen Kurs „weniger Wissen reinpauken zu müssen“ als vielmehr „die eigene Meinung einbringen zu können“. Dieses: eine „eigene Meinung“ haben zu wollen, ist vielleicht am ehesten der Stoff, aus dem der Philosophielehrer seine Vermittlungstraüme stricken muß. Die „eigene Meinung“ ist für viele Schüler das Indiz für Identität. Und sie kann produktiver Ausgang für das Philosophieren sein, denn „selbst denken“ ist (wieder Kant, Anthropologie) „das erste Gebot der zwangsfreien Denkungsart: auf keines Lehrers Worte zu schwören verpflichtet zu sein.“

Was ist der Mensch?
Aber die von Kant geforderte Mündigkeit hat sich der vernünftigen Argumentation der Anderen zu stellen. Und das heißt für den Unterricht: zunächst oft Verunsicherung der eigenen Meinung durch die Argumente der Mitschüler, durch die Aussagen der professionellen Philosophen und die Ergebnisse der Wissenschaften. So fällt vielleicht auch noch die mir so lieb gewordene eigene Meinung dem Diskurs zum Opfer. Dieses „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ hat den Sokrates befriedigt, aber befriedigt es auch die Schüler?

Fragen statt Antworten, eher Probleme statt Fakten, kein „Lehrbuch“, weniger kalkulierbarer Unterrichtserfolg für den Schüler, die nicht immer vermeidbaren „schwierigen“ philosophischen Texte... in der freien Konkurrenz der Fächer gibt es für unsere Schüler leichter Zugängliches und befriedigender Erlernbares. Und doch möchten wir Linus zum Philosophieren bekehren - aber wie?
Was darf ich hoffen?
Die klassische Philosophie zitiert hier die Motive: Staunen, Zweifel, Not - in der modernen Schuldidaktik heißt die Zauberformel: „die Schüler dort abzuholen, wo sie sind“ - und beides ist vielleicht zusammenzudenken.

Also doch Fragen, aber dann vor Ort: „Warum ist mir eigentlich Mode so wichtig?“ „Was heißt eigentlich lieben?“ „Warum gehe ich denn noch in die Schule, obwohl ich gar nicht mehr schulpflichtig bin?“ „Pech/Glück gehabt, daß ich ein Mädchen bin?“ „Was fasziniert mich am Samstagabend-Horror-Video?“ „Was macht mich eigentlich glücklich?“ „Warum gibt es zunehmend (?) Gewalt und Vandalismus?“ „Manche Mitschüler machen bei einer Partei mit, sollte ich das auch tun?“ „Holt Achilles nun die Schildkröte ein oder nicht?“ „Frauen zum Zivildienst oder Bund!?“ „Arbeitslosigkeit ist Schicksal?“ „Wie halten Sie's eigentlich mit der Religion, Herr Philosophielehrer?“

Mit solchen oder ähnlichen Fragen läßt sich schon einiges bewegen und das erhöhte Identitätsbedürfnis („Ich meine aber...“, s. o.) einbringen, d. h. den Schüler reden lassen, zum Zuhören bewegen und - worin dann die Kunst des Lehrenden bestehen sollte (!) - das Verlangen herzustellen, jetzt (erst) zu einem Text zu greifen, der den Hintergrund freilegt und präzisiert und vielleicht eine vorläufige und in ihrer Bedingtheit zu erkennende Erklärung oder Antwort versucht.
Was ist der Gewinn (neben den Punkten fürs Abi und der Abdeckung der Pflichtbelegung im gesellschaftswissenschaftlichen Feld)? Sicherlich irritieren die hier fast schwärmerischen Antworten der Antike: Platon beschreibt die philosophische Einsicht als strahlendes Leben, aus dem niemand freiwillig zurückzukehren bereit ist, Aristoteles als das höchste Menschenglück - aber beide dachten halt das dann Einsehbare als vollkommene Wohlordnung.

Die Zeiten haben sich geändert. Heutiges philosophisches Denken legt Beglückendes und Beunruhigendes frei. Aufklärung läßt hinter der Welt tradierter Institutionen, angeblicher „Sachzwänge“ und „Marktgesetze“ zunehmend uns selbst mit unseren Entscheidungen und Dispositionen als ursächlich erkennen. Die Erfahrung der Eigenmächtigkeit und Freiheit kann beglücken, die der Verantwortlichkeit muß beunruhigen. „Moral ist der Preis der Moderne“ (O. Höffe).

Vielleicht läßt sich Linus doch noch von der Philodoxie zur Philosophie bekehren, wenn wir ihm zeigen können, daß er sich selbst aus dem Wege geht, wenn er seinen Problemen aus dem Wege geht.

Joachim Paesler in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1996, Münster 1996
Abbildungen: Peanuts, Funkkolleg: Der Mensch; Loriot: dpa