Das Fach Erziehungswissenschaft am KvG


Allgemeiner Überblick
Im Verlauf der Diskussion um die Oberstufenreform Anfang der siebziger Jahre wurde nicht nur der Aufbau der gymnasialen Oberstufe in Frage gestellt, sondern auch die dort vermittelten Unterrichtsinhalte. Neben den traditionellen Bildungsfächern wurden neue Schulfächer eingeführt, die zwar als wissenschaftliche Disziplin schon lange bestanden, die aber kaum über didaktische Erfahrungen verfügten. Dazu zählt auch das Fach Erziehungswissenschaft (Pädagogik), welches 1972 dem durch die Neuorganisation der reformierten Oberstufe festgelegten gesellschaftswissenschaftlichen Bereich (Aufgabenfeld II: Geschichte, Erdkunde, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Sozialwissenschaft, Psychologie) zugeordnet wurde, ohne allerdings in die Pflichtbindung der von jedem Schüler zu belegenden Kurse aufgenommen zu werden.
Schon 1908 wurde an der preußischen Höheren Mädchenschule für einige Jahre das Fach Pädagogik eingeführt, seit geraumer Zeit besteht im berufsbildenden Schulwesen eine sozialpädagogische Richtung, aber erst 1962 wurde infolge der Saarbrücker Rahmenvereinbarung zur Neuordnung der Gymnasialen Oberstufe dem Fach Erziehungswissenschaft eine allgemeinbildende Funktion zuerkannt, d.h. das Fach steht bundesweit gerade vor seinem 25. Geburtstag. Als letztes Bundesland hat Niedersachsen 1984 verbindliche Rahmenrichtlinien für das „neue” Unterrichtsfach herausgegeben.
In NRW wurden laut Informationen des Kultusministers zum Schuljahr 84/85 an 519 von 635 Gymnasien (82 %) in der Oberstufe Pädagogikunterricht erteilt, wovon sich 76 Gymnasien in freier Trägerschaft hefinden. 2071 Fachlehrer (5,2 %) unterrichteten 66 940 von 206 930 Oberstufenschülern (32 %), was insgesamt sicher für eine Konsolidierung als allgemeinbildendes Fach im Kursangebot des Gymnasiums sprechen dürfte.

01
Die Situation am KvG
Mit Frau Rickert (noch bis 89 beurlaubt) wurde 1977/78 am KvG der erziehungswissenschaftliche Unterricht eingeführt und bis 81/82 als Grund- und Leistungskurs in allen drei Jahrgangsstufen ausgebaut. Der zwischenzeitliche Wechsel von drei Fachlehrern […] beeinträchtigte den weiteren Aufbau des Faches an unserer Schule nicht unerheblich und führte dazu, daß der Leistungskurs nun in Kooperation mit dem benachbarten Kant-Gymnasium erteilt wird. Seit 83/84 bin ich der einzige Fachlehrer am KvG, wobei zur Zeit in fünf Grundkursen in der Jahrgangsstufe 11 fünfundvierzig Schüler, in der Jahrgangsstufe 12 zweiunddreißig Schüler und in der Jahrgangsstufe 13 einundzwanzig Schüler unterrichtet werden. In der jetzigen Jahrgangsstufe 13 haben fünf Schüler Erziehungswissenschaft als 3. (schriftliches) Abiturfach und 14 Schüler als 4. (mündliches) Abiturfach gewählt. Auch am KvG belegen die Zahlen die fortschreitende Etablierung des Faches und seine Bewährung als Schulfach des Gymnasiums.

Aufgaben und Ziele des erziehungswissenschaftlichen Unterrichts
Die allgemeine Aufgabe des Pädagogikunterrichts besteht zunächst - wie bei allen anderen Fächern auch - in der wissenschaftspropädeutischen Ausbildung, d.h. in der Vermittlung der Studierfähigkeit durch Prinzipien und Formen des selbständigen Arbeitens, der Einübung grundlegender wissenschaftlicher Verfahrens- und Erkenntnisweisen. Mit Blick auf die handlungspropädeutische Aufgabenstellung hat der Unterricht einen wichtigen Beitrag zur Findung der personalen und sozialen Identität des Schülers zu leisten; d.h. an den Aufgaben und Möglichkeiten des Jugendalters orientiert zur Mündigkeit hin zu erziehen, was bedeutet, daß der Unterricht den Schüler auf verantwortliches Handeln in der Gesellschaft vorbereitet, daß Grundsätzliches für die Erziehung des jungen Menschen und für seine späteren Aufgaben geleistet wird. Konkreteres Wissen über - und eine Einführung in die Praxis von - Erziehung bedeutet ein Stück Menschlichkeit, da Erziehung ein integrierender Bestandteil der Lebensweise von Menschen darstellt.
Diese Lebenspraxis ist meines Erachtens heute nicht einfach zu bewältigen, wobei ein Wertekonsens mehr als fraglich ist. Deshalb sei die These erlaubt, daß Erziehung als wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens für den lebenspraktischen Vollzug eine Anreicherung benötigt.
Erziehungswissenschaftlicher Unterricht will versuchen, den Heranwachsenden in „seine” Rolle als Erwachsener einzuführen und in Umrissen seine spätere Erziehungsverantwortung aufzuzeigen, d.h. eine erzieherische Kompetenz zu vermitteln. Auch wenn heute die Berufswahl des Erziehers aus arbeitsmarktpolitischen Gegebenheiten begrenzt ist, so werden doch sicher die Schüler als spätere Eltern das erworbene Wissen als allgemeines Bildungsgut zu nutzen wissen. Ein so gebildeter Laie müßte die Erziehungswirklichkeit treffend beschreiben, strukturiert analysieren, fundiert und umsichtig beurteilen und möglichst auch Handlungsalternativen entwerfen können, um eine selbstverantwortliche, vernunft- und gewissensgeleitete Lebensführung für sich zu reflektieren.
Neben der Aufarbeitung und Reproduktion erziehungswissenschaftlicher Gegenstandsfelder und Theorien, die durch die kontinuierliche Konfrontation der Inhalte/ Themen zu einer Kompetenzentwicklung des Schülers führen, ist aber auch der Schüler selbst in einem begrenzten Umfang „Gegenstand“ des Unterrichts. Um für das eigene Leben Handlungsautonomie zu gewinnen, muß Selbstthematisierung und Selbsterfahrung hinsichtlich der pädagogischen Probleme, die die Heranwachsenden in den Unterricht einbringen, auch einen eigenen Stellenwert neben der Theorie haben. (Diese Position ist unter den Fachlehrern nicht unumstritten).
Viele Schüler bemängeln die auf Reproduktion abzielende Textarbeit bzw. die lediglich theoretische Beschäftigung des Unterrichts mit Problemen pädagogischer Art. Unterrichtsgänge zu Kindergärten, zu sozialpädagogischen Institutionen etc. und ein Kurzpraktikum könnten hier den pädagogischen Alltag außerhalb der Schule anschaulich machen. Auf die Bewältigung der eigenen Lebenspraxis des Schülers abzielend, könnte eine Auseinandersetzung über die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters zu einer Neuorientierung des Pädagogikunterrichts führen. Vorstellbar in diesem Sinne wäre z.B. eine Unterrichtsreihe, die die Loslösung vom Elternhaus als eine von Oberstufenschülern zu lösende Entwicklungsaufgabe thematisiert oder etwa die eigene Berufsorientierung. Diese neuen Tendenzen sind curricular aber noch nicht erprobt, sondern ebenso wie die Einführung von Pädagogikunterricht in der Sekundarstufe I (Klasse 9/10) noch Zukunftsmusik.
Winfried Nießen in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-1986. Festschrift zum 40jährigen Jubiläum des Gymnasiums, Münster 1986