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Abfahrt auf dem Schulhof
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Beobachtungen

Stufenfahrt der 12 nach Prag 1989

Na also, so schlimm war es doch gar nicht. Soeben fährt unser Bus in die CSSR hinein, die Grenze liegt hinter uns. Obwohl man im „Ostblock“ ist, sieht alles ganz normal aus.

Es geht weiter nach Prag, wo wir schließlich in unserem Hotel Axa ankommen. Die Unterbringung wird inspiziert, als anständig angenommen, und man trifft sich noch in kleinen Gruppen auf einzelnen Zimmern, um den ersten Abend gebührend zu würdigen. Daß es nur deshalb nicht zu Orgien kam, weil das - euphemistisch gesagt - recht preiswerte Bier schnell vergriffen war, ist eine bösartige Unterstellung, die ich in aller Entschiedenheit von uns weise. Einige wenige treffen an diesem ersten Abend auf eine Szene, die sie recht nachdenklich werden läßt. Per Zufall stoßen sie auf zwei Jugendliche aus der DDR, restlos betrunken, ihren Frust über den Staat, in dem sie leben (müssen), auf uns ahnungslose Westler schüttend. Einmal im Jahr können sie es sich leisten, hier nach Prag zu kommen, um dann ihren Schwermut in dem auch für Ostdeutsche günstigen Alkohol zu ertränken. Fassunglos und verbittert schauen sie auf uns, die wir als Wochenendurlauber mal eben nach Prag kommen, um ein paar Monate später nach Amerika, Skandinavien oder Marokko zu gehen.

Am nächsten Morgen ist Kultur angesagt. Mit dem Bus in die Altstadt, zum Veitsdom, anschließend zu Fuß durch die City. Die Schönheit dieser zentraleuropäischen Metropole schlägt uns in ihren Bann, eine Stadt wie ein überdimensionales Freilichtmuseum. […]

Die Tatsache, daß man in regelmäßigen Abständen von entgegenkommenden Passanten auf Deutsch mit „Wollen Sie tauschen?“ angesprochen wird, befremdet uns trotz der Vorwarnungen zu Anfang, schließlich gewöhnt man sich aber daran, wenn ich auch bis zum Schluß nicht verstanden habe, woran man denn nun als Deutscher auf fünfzig Meter Entfernung zu erkennen ist. Auf allgemeines Anraten hin haben wir auf den Schwarztausch auf offener Straße dann auch verzichtet, aber man entwickelt im Laufe der Tage ganz eigene Möglichkeiten. Ich bevorzuge ein nettes Café, wo man gegen Vorzeigen von DM-Scheinen in eine winzige Hinterstube geführt wird, in die der Kellner uns einschließt, den ganz ordentlichen Kurs von 1:18 rausrückt (offiziell: 1:?) und mir meinen schnell zur Tradition werdenden Cappuccino nicht extra berechnet. Aber vom Taxifahrer bis zum Bankangestellten ist im Prinzip jeder zum Tausch bereit, und trotz der Offensichtlichkeit dieser Geschäfte steht den meisten tschechischen Tauschpartnern die Angst in den entscheidenden Momenten ins Gesicht geschrieben.

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Demonstranten in Prag 1989.
Quelle: www.hdg.de
Neben den bereits angesprochenen kulturellen Angeboten gibt es für den politisch Interessierten ebenfalls genug zu sehen. Am krassesten am 1. Mai. Aus nicht ganz geklärten Gründen erscheinen wir viel zu spät zu den traditionellen Umzügen, man sieht noch den müde auf seiner Tribüne winkenden Staatschef, man hört die überall ertönende Lautsprecher-Marschmusik. Ich stelle mich mit ein paar Mitschülern an den Straßenrand am Wenzelsplatz, um das Geschehen in Ruhe zu beobachten. Plötzlich beginnt die Menge ein Pfeifkonzert, wir blicken uns irritiert um, dann sehen wir den Grund der Aufregung: Zwei Polizisten schleppen eine Person Richtung Polizeiwagen, der so behandelte junge Mann schreit, ein dritter Grüner läuft herbei, rammt seine Faust in den Bauch des Demonstranten, zu dritt schleifen sie ihn in das Auto. Das Ende eines normalen Lebens. Wie erstarrt stehen wir da, stumm und entsetzt, selber nun in der Angst, durch ein wie auch immer geartetes falsches Benehmen aufzufallen. Wieder Pfiffe, eine junge Frau erleidet dasselbe Schicksal, später wissen wir bei jedem Pfeifen: es hat wieder einen erwischt. Uns wird klar, daß die Menge auf dem Platz vor uns eine Demonstration versucht. Im nächsten Moment bilden Blauuniformierte einen Kessel, Reinigungsfahrzeuge fahren im dichtesten Abstand an den Menschen vorbei, treiben sie mit ihren Wasserwerfern auf engstem Raum zusammen. Wir sind gerade noch außen vor geblieben, einige aus der Jahrgangsstufe sind aber in den Kessel geraten. Zwei, die die besondere Sensibilität besitzen, in dieser Lage Portraitaufnahmen von den Polizisten zu machen, büßen ihre Filme ein und müssen die Personalien angeben. Uns wird der Weg zurück versperrt, und nach einigen Irrwegen werden wir von den Polizisten in einen U-Bahnschacht getrieben, den man pfiffigerweise nur wieder verlassen kann, wenn man einen Zug besteigt und somit den Brennpunkt des Geschehens hinter sich läßt. Der real existierende Sozialismus hat sich in seiner ganzen Größe präsentiert. Die nachmittägliche Idylle des großen Vergnügungsparks in Prag, den wir aufsuchen, wirkt wie eine Lüge, und auch als die gesamte Jahrgangsstufe am Abend in einem Renommierlokal Prags zum Spottpreis speist, ist die Beklemmung noch nicht vollständig gewichen.

Auf dem kulturellen Sektor tut sich dann auch wieder was, wir besuchen das Technische Museum (und werden von einem hervorragend erklärenden Professor geführt, der sich so ein paar Westmark verdient), mein Deutsch-LK wandelt später auf den Spuren Kafkas durch Prag […]

„Ich kauf' mir was, denn kaufen macht so viel Spaß“: ein Song, der wie ein böser Geist über den freien Stunden schwebt, wenn die Schülerhorden über Prager Geschäfte und Restaurants herfallen, in wenigen Momenten ganze Monatsgehälter eines Tschechen ausgeben. Klar habe ich mitgemacht, messe stolz am Abend die für Pfennige erworbenen Bücher mit meinem Zimmermitbewohner und stelle befriedigt fest, daß ich mit meinen ca. 1,3 Metern Büchern mindestens zwanzig Zentimeter mehr als er habe. Dafür habe ich das Lederwarengeschäft nicht finden können und keine so schöne Aktentasche ergattern können. Die Freundin des erwähnten Mitbewohners erscheint und führt stolz die neuerworbene Hose vor, die ich zwar ungewöhnlich scheußlich finde, aber was soll's, kostet ja nichts. Ich kann uns eigentlich nur zugute halten, daß wir uns der Perversion wenigstens bewußt waren, der wir uns hingegeben haben.

Die Abfahrt naht, fünf Tage Prag liegen hinter uns, und bisher habe ich noch keinen gesprochen, dem sie nicht hervorragend gefallen haben. Nicht zuletzt natürlich aufgrund der Tatsache, mit der ganzen Jahrgangsstufe losgefahren zu sein. Das Klima war wirklich prima, in einigen Fällen - vorsichtig gesagt - gar innig. […]

Heiko Werning (Abitur 1990), KvG-Infoheft 1989/90