La Villa 1978

Erinnerungen eines Ehemaligen

Da stehen sie nun, alle Schüler unserer Stufe, und gackern aufgeregt durcheinander. Es ist soweit, gleich geht es los, Richtung La Villa, was haben wir uns lange darauf gefreut, schon seit wir die Gemäuer des KvG zum ersten Mal erblickten. Die Mütter fragen schnell und aufgeregt noch einmal nach, ob wir denn auch ja nichts vergessen haben; eine lange Unterhose, einen warmen Schal oder so. Die Väter beobachten eher stumm die Szenerie, kalt ist es auch noch, kurz vor Anbruch der Nacht auf dem Schulhof.
Ab geht die Post, schnell wird uns klar, womit wir uns in dieser Nacht am meisten befassen werden. Nicht mit Unterhaltung während der 16 Stunden, die uns bevorstehen, nicht mit Kartenspiel etwa, nein, unser Thema wird Kälte heißen. Die Heizung des Busses hat nämlich keine Lust zu arbeiten. So müssen wir aufpassen, wenn wir nach einem kurzen Nickerchen aufwachen, damit wir unsere Köpfe nicht zu hastig von der Fensterscheibe entfernen, es könnte ein Büschel Haare hängenbleiben.
Ankunft am Ciasa Sottsass, wir schreiben den 16. Januar 1978, wärmer ist es auch nicht geworden. Aufgeregt wird noch über die Serpentinen auf dem Schlußstück der Fahrt gesprochen, über die Abgründe, die sich da aus dem Busfenster auftaten. Hektik hoch drei jetzt, jeder will schnell in sein Zimmer, alles schnell begutachten. Gut, als es endlich Abend geworden ist, man etwas Warmes im Bauch hat, die Cafeteria mit Eisbar Zur Gemütlichkeit einlädt, „rocken” in der Disco ist heute wohl nicht das Richtige. Ein, zwei oder drei Bier, das ist jetzt der passende Schlummertrunk.
Viel zu früh ist es laut auf dem Gang, der erste Skitag steht an. Was habe ich nicht alles mitbekommen, um warm zu bleiben! Immerhin bin ich das erste Mal auf Brettern, oben in den Dolomiten, und alle Welt sagte mir zuvor: „Es ist kalt, zieh dich warm an.” Gesagt, getan, es geht nicht wärmer. Zwei Pullover, lange Unterhose, Mütze, Skibrille, selbstverständlich einen Skianzug, das müßte reichen, ich bin soweit. Also die Bretter geschultert, ab zum Haushang. „Jetzt müssen wir uns erstmal eine Piste präparieren”, meint unser Chef, Horst Vogelpohl. Also gut, was willst du meckern, denke ich mir; du hast ja alles, was du willst, Sonne, viel Schnee, endlich Bretter unter den Füßen. Aber warm ist es, es dauert nicht lang, da habe ich ein Häufchen in den Schnee gemacht, aus überflüssigen Kleidungsstücken, versteht sich.
Es ist ja doch ein komisches Gefühl, in diesen großen, schweren, klobigen Schuhen zu stehen, wo man praktisch gar nicht umfallen kann, und dann noch diese unförmigen Latten unter den Füßen. Vor allem: die Dinger bleiben ja nicht stehen, wenn man will, nirgends steht man sicher. Gut, daß der Schnee schön weich ist, da macht das Hinfallen richtig Spaß.
Was ja auch verwunderlich ist, für mich sehr sogar: Man kann ja richtig bewußt etwas auf diesen langen Latten machen, und was da unser Vorturner erzählt, funktioniert sogar, zwar nicht so schön und einfach, wie man sich das vorstellt, auch ein wenig verkrampft, aber immerhin. Man kann lenken, trotz der Behinderung von knapp zwei Metern Fiberglas an jedem Fuß. Und es geht unserer gesamten Gruppe so, man könnte sogar sagen, es macht Spaß, auf den Brettern herumzurutschen, die Fortschritte sind ja wider Erwarten enorm.
Doch kaum steht man zwei Tage darauf, heißt es schon wieder: „Morgen is nich mit Skifahren, Verletzungsgefahr oder so, übermütig werdet ihr.” So ein Blödsinn, denke ich mir, dabei klappt das doch schon so jovel bei allen, wir könnten direkt allein den Hang hinuntersausen...

01 02 03
04 05 06
07 08 09 10 11 12
13   14
15 16 17

Hat ja auch was für sich, so ein skifreier Tag, da können wir ja heute abend richtig einen drauf machen. Verlängerung ist genehmigt, bis sage und schreibe halb elf dürfen wir heute abend zaubern. Wer da noch nicht müde ist, ist ein Energiebündel, oder nicht....?
Am nächsten Tag kein Skifahren, zum See wandern, na ja, war auch nicht schlecht, aber das Gelbe vom Ei habe ich mir anders vorgestellt. Am Abend haben wir uns in Gruppen eingetragen, nach Freundschaften, am nächsten Morgen heißt es Skier auf den Buckel, auf zum Tonnenlift. Wie heißt es so schön: Skifahren ist ein Erlebnis mit der Natur, ein tolles Gefühl der Geschwindigkeit, der Bewegung. Soweit die Werbung. Bis zur Talstation jedenfalls fühle ich mich nicht völlig losgelöst, eher etwas kaputt bei der Rennerei. Und dann dieser Wahnsinnsanblick: 50 Meter Menschenschlange vor dem Lift hoch zum Piz La Villa, sprich: eine halbe Stunde Wartezeit. Das Erlebnis begann erst wieder beim Eintritt, nein Einsprung in die Tonne, und so richtig erst auf dem Piz.
Doch ja, zugegeben, bei einem solchen Rundblick kann man schon mit Fug und Recht von einem Naturerlebnis sprechen. Noch nie in den Alpen gewesen, und da steht man nun, kalt ist einem zwar noch nach der 20minütigen Auffahrt, doch oben scheint ja die Sonne. Da erheben sich die Berge, Österreich ist zu sehen, greifbar nahe die Sellagruppe, dort muß wohl das Grödnertal beginnen, die Gletscher der Marmolada schimmern im Sonnenlicht, etwas weiter der Lagazuoi, dahinter, so hört man, liegt das mondäne Cortina d'Ampezzo. Doch, in diesen Tagen oben, im Bereich der Alta Badia, genießen wir die Skiabfahrten, wir haben ja fast auch nur schönes Wetter. Gute Lernbedingungen, es ist auch schön, daß wir als Freundeskreis zusammenbleiben konnten, nicht nach Leistung auseinanderdividiert wurden. Skifahren hat viel mit Spaß zu tun, man denkt nicht schnell an Leistung oder etwa Benotung, unter Freunden ist die Laune jovel, die Lernfortschritte sind dementsprechend. Diese Fortschritte sind es auch, gerade während des Anfängerskikurses, die die ganze Angelegenheit so erlebnisvoll gestalten. Mit bangen Gefühlen angereist, nicht wissend, was da auf einen zukam, ob man sich überhaupt an das völlig neue Bewegungsgefühl gewöhnen kann, und jetzt, gerade ein paar Tage auf den Brettern, sind wir überall, na ja, fast, bis auf die Schwarze, die Gran Risa runter nach La Villa, schon abgefahren. So etwas fördert natürlich die gute Laune, den Spaß am Skifahren, an der Fahrt an sich, so bleibt La Villa vor allem positiv in den Köpfen kleben.
Da ist noch ein Punkt, der uns alle wohl zuvor mit mehr oder weniger Skepsis erfüllte. Wir aus der a der Zehnten, wir kannten uns ja, aber da waren die anderen aus der b und c, ob wir uns mit denen wohl auch verstehen würden? Klar, wir waren schon ein Halbjahr lang in der Oberstufe, in den Kursen zusammen, aber so richtig zu Kontakten war es eigentlich noch nicht gekommen. Doch dazu war man in La Villa geradezu gezwungen zur Kontaktaufnahme, und siehe da, recht nette Jungen und Mädchen waren das ja, die anderen. Spätestens unten in der Disco kam richtig Freude auf, hier wurde auch einiges Langfristige angebahnt, etliche waren jedenfalls nach La Villa unter der Haube, mal für länger, mal auch für etwas kürzer.
Ein rundherum positives Fazit, abgesehen von einigen kleineren Kritikpunkten. Skigefahren sind die meisten aus unserer Stufe wieder, wie ich so den Überblick habe, einige, wie auch ich, mal wieder nach La Villa. [...]
Ach ja, zurück mußten wir ja auch noch, nach den Erfahrungen mit Decken gut ausgerüstet, doch diesmal tat es die Heizung, zunächst. Da ging es den Brenner hoch, es qualmte und stank auf einmal aus allen Löchern, schließlich doch der erflehte „Boxenstop”. Ein Blick in den Motorraum ließ helle Panik aufkommen: die Flammen loderten. In der Hektik wurde natürlich nicht mit dem dafür vorgesehehenen Löscher gegen die Flammen gekämpft, sondern mit dem Schnee vom Straßenrand. Oben am Brenner angekommen, kam, was kornmen mußte: Reparaturstopp für drei Stunden, keine Gaststätte in Sicht. Gut, daß es nicht kalt ist, so mitten in der Nacht, im Freien, Ende Januar, hoch oben auf dem Brenner-Paß, man könnte ja frieren. Überflüssig zu bemerken, daß die Heizung nach der notdürftigen Reparatur nicht mehr funktionierte...
Harald Strier in: Kardinal-von-Galen-Schule 1946-86, Münster 1986